Wir haben Sie irgendwie größer erwartet
ihnen vor die Augen kam. Dann trat sie ans Fenster, um zu prüfen, wie er im Tageslicht aussah, und stellte jedesmal fest, es sei nicht der richtige. Die Steine hatten entweder die falsche Farbe oder waren zu klein oder zu groß, oder die Form der Einfassungen paßte ihr nicht. Es hatte fast den Anschein, als nehme Linda die ganze Angelegenheit nicht sonderlich ernst.
Sie hatten bereits sieben Geschäfte abgeklappert, und mittlerweile war es schon kurz vor halb sechs.
»Ach, das hat keinen Sinn«, sagte Linda. »Mir gefällt kein einziger von den Ringen, die wir bisher gesehen haben. Und schließlich soll ich ihn ja später mal tragen. Für immer und ewig«, fügte sie zärtlich hinzu. Aus irgendeinem Grund kam Malcolm diese Bemerkung ganz untypisch für Linda vor, aber er schrieb sie ihrer Aufregung zu.
»Wenn wir uns beeilen, können wir noch schnell in den Laden da drüben schauen«, schlug er vor.
»Nein«, wehrte Linda ab. »Ich weiß, welchen Ring ich haben will.« Und sie teilte Malcolm ihren Wunsch mit. Gleich darauf begann es zu regnen.
Die beiden Sperlinge, die vor dem größten Juweliergeschäft in der Bond Street gerade Krümel aufpickten, sahen sich an.
»Hascht du dasch gehört?« nuschelte der erste Spatz.
»Sprich nicht mit vollem Schnabel«, ermahnte ihn der zweite.
»Aber Mama, das ist doch er!« antwortete der erste. »Er gibt ihr den großen Ring.«
»Das geht uns überhaupt nichts an. Und wenn du dich nicht augenblicklich irgendwo unterstellst, holst du dir noch den Tod!«
»Aber Mama!« entgegnete der erste Spatz unbeirrt. »Wäre das nicht schrecklich, wenn er ihr den Ring gibt?«
»Wie oft muß ich dir eigentlich noch sagen, daß man nicht die Gespräche fremder Leute belauscht? So was gehört sich nun mal nicht.« Die Spatzenmutter flatterte aufgeregt mit den Flügeln. Eine derartige Vorstellung war wirklich furchtbar, und sie wollte nichts damit zu tun haben.
»Ja, glaubst du denn, der hat die geringste Ahnung, wie schrecklich das wäre? Glaubst du das wirklich?«
»Halt den Schnabel! Die Leute starren uns ja schon an!«
»Es gehört sich nicht, andere anzustarren«, erwiderte der erste Spatz, dem diese Regel unzählige Male eingetrichtert worden war. »Sollten wir’s ihm nicht sagen, wenn er keine Ahnung hat? Wenn wir’s ihm nämlich nicht sagen …«
Am Himmel waren zwei Raben aufgetaucht, die in diesem Moment langsam und lautlos über der Straße ihre Kreise zogen. Niemand bemerkte sie; schließlich waren sie gekommen, um zu sehen, und nicht, um gesehen zu werden.
»Das ist ja gar nicht der Mann, den du meinst«, wiegelte die Spatzenmutter nervös ab. »Das bildest du dir alles nur ein. Wenn du nicht auf der Stelle herkommst, erzähle ich alles deinem Vater!«
Malcolm stand vollkommen reglos da. Linda lächelte ihn an, sagte aber nichts. Er wollte ihr den Ring geben. Ihm fiel kein Grund ein, warum er ihn Linda nicht an den Finger stecken sollte. Fast vom ersten Moment ihrer Bekanntschaft an hatte er Linda den Ring schenken wollen, und genau das wollte er jetzt nachholen. Das war der einzig richtige Schritt – der einzig mögliche Schritt.
Der junge Spatz hüpfte mißmutig unter einen parkenden Lieferwagen. Seine Mutter schimpfte hinter ihm her, aber davon ließ er sich nicht sonderlich beeindrucken. Es konnte keinesfalls rechtens sein, daß der Ringträger seinen Ring Wotans Tochter schenkte. Die Spatzenmutter hörte für einen Moment mit dem Gezwitscher auf und streckte den Kopf vor, um nach einem Flaschenverschluß zu picken. Jetzt war für den jungen Sperling die Chance gekommen.
»Ach, bitte!« flehte Linda. »Er gefällt mir doch so gut.«
Malcolm nahm den Ring zwischen den Daumen und Zeigefinger der linken Hand und zog ihn langsam ab. Zwar hatte er befürchtet, der Ring lasse sich nicht so leicht abstreifen, doch er glitt vollkommen mühelos vom Finger. Malcolm zögerte kurz. Linda lächelte immer noch. Sie hatte weder die Hand ausgestreckt, noch machte sie irgendwelche anderen Anstalten, die auf eine übereifrige Reaktion hätten schließen können. Malcolm versuchte, ihre Gedanken zu lesen, doch das gelang ihm nicht. Er spürte, wie ihm das Regenwasser durchs Haar lief, aber er wußte nicht, wodurch dieses unwiderstehliche Gefühl bei ihm hervorgerufen wurde, Linda unbedingt den Ring geben zu wollen – sicherlich hatte das schon seine Richtigkeit. Ihm würde es sehr leichtfallen, ihr den Ring zu schenken. Es konnte überhaupt nichts Leichteres geben, und
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