Wir haben Sie irgendwie größer erwartet
Salon von Combe Hall hatte sich eine Gesellschaft versammelt. Es war schon Jahrhunderte her, seit sich die Anwesenden auf diese Weise zusammengefunden hatten, und so nahe beieinander fühlten sich alle ausgesprochen unbehaglich, ähnlich wie schon seit langem entfremdete Verwandte, die sich auf einer Beerdigung begegnen.
Alberich brach als erster das Schweigen. »Er hat überhaupt nicht das Recht, einfach so zu verschwinden«, beschwerte er sich. »Das ist schlichtweg unverantwortlich und kann auf …«
»Warum sollte er denn nicht weggehen, wenn er Lust dazu hat?« unterbrach ihn Floßhilde wütend. »Der Arme hat in letzter Zeit ganz schön unter Druck gestanden. Und wir wissen ja wohl alle, wessen Schuld das ist.« Sie blickte ostentativ auf Mutter und Tochter, die auf dem Sofa saßen.
»Also, jetzt wollen wir doch mal schön ruhig bleiben«, beschwichtigte Erda. »Leider hat uns Mister Fisher alle in der Hand. Uns bleibt nichts anderes übrig als abzuwarten, bis er es für angebracht hält zurückzukehren.«
»Ach mit dir habe ich doch überhaupt nicht geredet«, winkte Floßhilde ab. »Ich habe die da gemeint.«
Ortlinde sagte nichts. Sie saß einfach da und starrte auf den Fußboden. Dieses Verhalten wirkte auf Floßhilde offenbar höchst provozierend, denn sie sprang schließlich auf und steckte der Walküre ein Stück Würfelzucker in den Kragen, was Ortlinde allerdings kaum zu bemerken schien.
»So, das reicht jetzt!« ermahnte Erda die Rheintochter nachdrücklich. »Lindi, vielleicht gehst du am besten nach oben in die Bibliothek.«
»O nein, das läßt du schön bleiben!« protestierte Floßhilde. »Ich will sie hier im Salon haben, damit ich ihr genau auf die Finger gucken kann.«
»Das kommt dabei raus, wenn man einen Zivilisten in so eine Sache hineinzieht!« fluchte Alberich. »Wessen Idee war das eigentlich?«
»Meine ganz bestimmt nicht«, antwortete Erda. »Ich habe von der ganzen Geschichte erst in den Nachrichten erfahren.«
»Eins verstehe ich überhaupt nicht«, fuhr Alberich fort. »Wer ist dieser Malcolm Fisher eigentlich? Gibt es überhaupt jemanden auf dieser Welt, der als Ringträger noch ungeeigneter ist als …«
»Ich finde, er macht das ganz toll!« schwärmte Floßhilde. »Es ist doch alles ganz wunderbar, jedenfalls war es das, bis die da aufgetaucht ist.«
»Das bestreite ich ja gar nicht«, entgegnete Alberich. »Aber es ist nach wie vor so, daß er nun einmal völlig anders als alle bisherigen Ringträger ist. Möglicherweise ist das sogar ganz gut so, was weiß ich? Aber wenn alles nach dem Willen von euch Mädchen gegangen wäre, hätte er sich leicht zum schlimmsten Ringträger aller Zeiten entwickeln können.«
»Mich brauchst du da gar nicht so anzugucken«, wehrte sich Floßhilde. »Ich bin schließlich auf seiner Seite.«
»Wer ihn als Ringträger ausgewählt hat, das will ich wissen«, fuhr Alberich fort. »Eine derartige Wahl ergibt sich doch nicht einfach so. Ich meine, betrachten wir mal die Fakten: Er überfährt zufällig einen Dachs, der sich dann auch noch als Ingolf herausstellt. Das ergibt doch keinen Sinn.«
»Ich gestehe, daß ich deine Verwirrung teile«, stimmte Erda ihm zu. »Das war auf keinen Fall meine Absicht gewesen, als ich …« Sie verstummte jäh, da sie merkte, daß sie schon zuviel verraten hatte.
»Sprich ruhig weiter«, forderte Alberich sie auf. »Was sollte denn statt dessen passieren?«
»Es ist mir nicht gestattet …«
»Da es gar nicht passiert ist, kann es ja wohl nicht so wichtig sein, um es nicht verraten zu können«, folgerte Alberich etwas umständlich.
Erda zuckte mit den knochigen Schultern. »Na gut«, willigte sie ein. »Der Ring sollte dem letzten Nachkommen der Völsungen in die Hände fallen.«
»Es gibt doch gar keine Völsungen mehr«, wunderte sich Floßhilde.
»Das stimmt nicht«, widersprach Erda. »Siegfried und Gutrune hatten nämlich noch ein Kind bekommen, eine Tochter namens Sieghilde.«
»Davon habe ich nichts gewußt«, staunte Alberich.
»Das hat bis eben auch keiner gewußt, dafür habe ich schon gesorgt. Sieghilde ist am Hof König Etzels von Ungarn erzogen worden, wo sie einen Mann namens Unferth geheiratet hat. Ein höchst ungleiches Paar, möchte ich sagen, und deshalb eine Heirat, die ich nicht billigen konnte. Leider war es schon zu spät, um sie noch zu verhindern.«
»Und was ist dann passiert?«
»Ich habe keine Ahnung. Unferth war von Beruf fahrender Sänger, und durch seine
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