»Wir haben soeben unsere Reiseflughöhe vergessen«
Parkplatzverwaltung irgendwann ein und verscheucht sie, aber das ist nicht weiter schlimm. Sie sind stets abfahrbereit und steuern einfach den nächstgelegenen Flughafen an. Die Abenteuerlustigeren unter ihnen – die ganz ohne festen Wohnsitz – fahren kreuz und quer durchs Land und verbringen manchmal Monate damit, tagsüber neue Städte zu erkunden, während sie nachts auf irgendeinem Flughafenparkplatz übernachten.
Und dann ist da noch Tom, der einzige mir bekannte Pendler ohne Crashpad, der einen wirklich exklusiven Lebensstil pflegt. Er hat sich in den Casinos von Las Vegas so viele Gratisnächte erspielt, dass er dort eine Woche im Monat kostenlos in Saus und Braus leben kann. Dieses System praktiziert er bereits seit Jahren: Er absolviert mehrere Flüge direkt hintereinander und teilt sich seinen Monat in drei Blöcke ein. Wenn er gerade nicht in Sin City ist, besucht er entweder ein paar Tage lang seine Eltern oder er campiert auf dem Sofa eines alten Freundes. Seine Habseligkeiten liegen im Kofferraum seines Wagens, der auf dem Mitarbeiterparkplatz des Flughafens steht. Manchmal transportiert er sie in dem riesigen Rollkoffer, den er trotz allem noch besitzt. Vielleicht verstehen Sie jetzt, weshalb die Airline uns den Zutritt in die Vielflieger-Lounges verwehrt: Wir würden sofort einziehen und bis zur Rente dort bleiben.
Bei unserer Ankunft in Kew Gardens gehörten Georgia und ich nicht zu den Pendlern. Noch nicht. Als Anfänger mussten wir zunächst eine sechsmonatige Probezeit überstehen. (Falls wir in dieser Zeit etwas vermasseln würden, konnten wir den Job gleich vergessen.) Da wir erst danach in den Genuss von Freiflügen kommen würden, lebten Georgia und ich folglich dauerhaft in unserem Crashpad. Wir hatten so unglaubliches Heimweh, dass wir höchstwahrscheinlich ununterbrochen nach Hause geflogen wären, hätten uns schon jetzt Gratisflüge zugestanden. Stattdessen saßen wir in New York fest und mussten uns ein Zimmer mit Gott weiß wie vielen Pendlern und sechs anderen Berufseinsteigern teilen. Wenn wir nicht gerade für einen Flug eingeteilt waren, hockten wir 24 Stunden am Tag aufeinander.
Unser Crashpad in der Beverly Road gehörte Victor, einem pensionierten Trans-World-Flugbegleiter. Victor stammte aus Südamerika, war damals vermutlich um die sechzig und hatte einen so ausgeprägten Akzent, dass man ihn kaum verstand. Er hatte einen dicken Schnauzer und zwei fettige Haarbüschel, die auf seinem ansonsten kahlen, sommersprossigen Schädel prangten. Jeden Monat kassierte er 150 Dollar pro Bett von uns. Victor bewohnte das zweite Stockwerk, in dem sich ein riesiges Schlafzimmer (größer als die meisten Ein-Zimmer-Apartments in New York), eine winzige Küche und ein ebenfalls riesiges Badezimmer, das sogar Platz für zwei Stühle und eine Badewanne mit Löwenfüßen bot, befanden. Obwohl er mit großer Begeisterung Schaumbäder nahm, war Victor im Gegensatz zur Mehrzahl aller männlichen Flugbegleiter nicht schwul. Das weiß ich deshalb so genau, weil Georgia und ich am Abend unserer Ankunft zu ihm nach oben gingen, um uns vorzustellen und die Miete zu bezahlen. Wir klopften an seine Schlafzimmertür, worauf eine Stimme vom anderen Ende des Korridors »Herein« rief. Also öffneten wir die Tür. Und da lag er – in der Wanne. An anderen Tagen wandelte er in einem Mankini im Borat-Stil oder einem langen Satinmorgenrock durchs Haus. Er war eigentlich ein recht umgänglicher Kerl, obwohl er die Thermostate von den Heizkörpern abmontiert hatte und keine Männer im Haus zuließ. (Die oberste und einzige Regel der Hausordnung.) Na ja, keine Männer außer den beiden Piloten, die im Keller wohnten.
Obwohl ich eine vage Vorstellung vom Leben in einem Crashpad gehabt hatte, war es ziemlich beängstigend, als ich nach meiner ersten Nacht in New York aufwachte, Georgias Bett leer vorfand und zwei fremde Frauen tief und fest im benachbarten Bett schliefen. Wie um alles in der Welt hatte mir ihre Ankunft entgehen können? Ich warf meinen Morgenrock über, schlich hinaus und zog ganz leise die Tür hinter mir zu. Georgia saß mit einer Tasse Kaffee auf dem Sofa im Wohnzimmer. Der Fernseher war ausgeschaltet, von Marge weit und breit nichts zu sehen.
»Ich dachte schon, du wachst überhaupt nicht mehr auf. Beeil dich, sonst kommen wir noch zu spät zum Orientierungsseminar!«, zwitscherte Georgia gut gelaunt.
Dieser Kurs sollte uns mit den drei New Yorker Flughäfen vertraut machen: LaGuardia,
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