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»Wir haben soeben unsere Reiseflughöhe vergessen«

»Wir haben soeben unsere Reiseflughöhe vergessen«

Titel: »Wir haben soeben unsere Reiseflughöhe vergessen« Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heather Poole
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eisern am Ball. Und ich fing an, mir Ausreden einfallen zu lassen, um mich nicht mehr mit ihm treffen zu müssen. Als das keine Wirkung zeigte, rief ich ihn einfach nicht mehr zurück.
    Ein Jahr später fing ich bei genau derselben Airline an, für die auch er arbeitete. Logischerweise musste ich immer wieder an ihn denken, und ich bereute mein schlechtes Benehmen von damals aufrichtig. Ich hatte regelrecht Panik, ihm irgendwo zufällig in die Arme zu laufen! Was zwangsläufig passieren würde, auch wenn bei meiner Airline knapp zwanzigtausend Flugbegleiterinnen beschäftigt waren und man mit ständig wechselnden Crews flog. Das Interessante an meinem Beruf ist, dass man jemanden manchmal jahrelang nicht mehr gesehen hat, und plötzlich taucht der oder die wieder auf derselben Crewliste auf und man redet miteinander, als wäre man sich am Vortag das letzte Mal begegnet. (Nur dass der andere oder man selbst ein paar Kilo mehr auf den Rippen oder ein paar Haare weniger auf dem Kopf hat.) Und gerade wenn wir uns zurücklehnen und sicher sind, dass ein unliebsamer Kollege gekündigt hat, in Rente gegangen ist oder an eine andere Basis versetzt wurde, laufen wir ihm wieder über den Weg. Es kann passieren, dass wir vor wenigen Tagen noch mit einer Kollegin zusammengearbeitet haben, und wenn wir sie das nächste Mal sehen, ist sie dreifache Mutter und gibt uns während des Landeanflugs Erziehungstipps. Oder noch viel schlimmer: In der einen Minute geht ein Pilot noch mit einem ganz normalen Mädchen aus, das in Wahrheit gar nicht auf ihn steht und über den Job als Flugbegleiterin stänkert, und als er sie das nächste Mal sieht, trägt sie die gleiche Uniform wie er – und versucht es vor ihm zu verheimlichen.
    Ich war gerade mit Georgia bei Victor, unserem Drogenbaron und Mankini-Liebhaber, eingezogen, als Gary aus heiterem Himmel anrief, »nur um zu fragen, wie es so läuft«. Ich schämte mich viel zu sehr wegen meines Lästerns über seine Branche, um ihm die Wahrheit zu beichten – nämlich dass ich mich in dieser Sekunde in einem Layover-Hotel in Oklahoma City befand. Also log ich. Er sollte nicht erfahren, dass ich gerade mutterseelenallein im gegenüberliegenden Schnellrestaurant mein Frühstück als Abendessen verspeist hatte (ich war als Extra auf meinem letzten Flug eingeteilt gewesen und würde deshalb auch die nächsten drei Tage allein bleiben). Also behauptete ich, alles laufe ganz prima, sogar absolut toll, und, ja, ich würde noch immer für den Uhrenhersteller arbeiten. Ich schwadronierte endlos über ein Leben, das ich längst nicht mehr führte und auch gar nicht mehr führen wollte, und beschrieb in schillernden Farben Dinge, die ich lange vor meiner Zeit als Flugbegleiterin mit Menschen erlebt hatte, zu denen der Kontakt längst abgebrochen war. Gary lauschte schweigend. Ich erinnere mich nicht mehr daran, wie die Unterhaltung endete, aber irgendwann tat sie es wohl, und ich gebe zu, dass mich ein tiefes Gefühl der Erleichterung durchströmte, als ich auflegte. Nach diesem Gespräch war meine Furcht, auf der Miami-Strecke eingeteilt zu werden, noch größer als davor.
    Wann immer ich mich am Flughafen von Miami aufhielt – einem der chaotischsten Flughäfen der Welt, auf dem man Menschen beobachten kann, wie man sie nirgendwo sonst auf dem Planeten zu sehen bekommt –, legte ich einen Zahn zu und blieb nur stehen, um das Allernötigste zu besorgen: eine Portion von dem berühmten Reis mit Bohnen im La Caretta und einen Café con leche im Café Versailles, mehr nicht. Und während ich in der Schlange des Restaurants stand, wo es das köstlichste kubanische Essen zum Mitnehmen gibt, sah ich mich ununterbrochen um und suchte die Massen nach einem vertrauten Gesicht ab. Ich bewegte mich mit äußerster Vorsicht, stets bereit, sofort hinter einem Zeitschriftenständer oder einem Passagiergrüppchen abzutauchen, um ihm bloß nicht in die Arme zu laufen. Früher oder später würde ich mich natürlich meinen Ängsten stellen müssen, bis dahin hoffte ich aber inbrünstig, dass es noch möglichst lange dauerte, bis dieser Tag kam. Während ich auf das Unvermeidliche wartete, malte ich mir alle möglichen Szenarien für unser Wiedersehen aus – bis auf das eine, das ich tatsächlich erleben sollte.
    Ich war gerade mit meiner Crew in Dallas an Bord gegangen. Die Maschine wurde gereinigt und das Essen geliefert, als ich eine Fliegerbrille auf der Ablage in der Bordküche liegen sah. Natürlich schnappte

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