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Wir hatten mal ein Kind

Wir hatten mal ein Kind

Titel: Wir hatten mal ein Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Fallada
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Sakristeitür ein bißchen auf, trotzdem er das eigentlich für ganz unziemlich hielt, denn die Minuten während des Gemeindegesanges hat der Geistliche sich in der Sakristei innerlich auf seine Predigt vorzubereiten. Er sah nur einen spitzen Ausschnitt von drei Bänken, mit den Bauersleuten Lau und Gierke, die sich aber umgedreht hatten …
    Sicher war etwas nicht im Lot. Vielleicht war, wie schon einmal, der Dorfsüffel Timmermann in den Gottesdienst geraten, und Wollenzien war wieder einmal der Lage nicht gewachsen.
    Mutig ging die Orgel das Zwischenspiel zur fünften Strophe an, klang, psalmodeite und tat einen tiefen, hinsterbenden Seufzer: keine Luft. Der Bälgetreter auch nicht auf dem Posten. Na warte, Jungchen!
    Der Superintendent raffte den Talar und kletterte die Treppe zur Kanzel empor. Na wartet, ich will euch umdrehen lehren!
    Er trat hinaus vor seine Gemeinde. Sie sahen nicht hin zu ihm, sie merkten sein Kommen gar nicht einmal. Alle Gesichter waren von der Kanzel fortgewendet, nach dem Kirchenchor zu, und weder Wollenzien noch der Kantor waren zu sehen. Jawohl, der Platz an der Orgel war verlassen, mitten im Vorspiel zur fünften Strophe, da doch sechs gesungen werden sollten!
    Friedfertigkeit erfüllte nicht des Superintendenten Herz, da er sich einmal, ein zweites Mal räusperte. Er mußte sich ein drittes Mal räuspern, ehe alle zu ihm hersahen. In allen Gesichtern lag etwas Verhaltenes, sie sahen ihn so erwartungsvoll an, viele waren rot, andere zuckten, Kinne wackelten, Bärte sträubten sich. Der Geistliche spähte. Er sah nichts. Er verlas das Schriftwort, er merkte, sie hörten ihn gar nicht – worauf warteten sie noch?
    |125| Er begann seine Predigt. Sie hörten nicht zu, ja viele Gesichter hatten sich wieder von ihm fortgewendet.
    Superintendent Marder war sehr böse. Er war so böse, daß er die Predigt unterbrach und energisch mit einem Finger auf die Kanzelbrüstung pochte. Zögernd kamen die Gesichter zurück zu ihm, jetzt schien auf der Orgelempore ein verhaltenes Gerenne, ein leises Gehusche zu sein.
    Der Superintendent wollte neu einsetzen. Da klang von der Orgelempore schrill in höchstem Jagdeifer plattdeutsch eine grelle überkippende Jungenstimme: Ick heff em, Herr Kanter. Kamen Se längs! Ick hol dat Undiert nich …
    Und hinter der Orgel hervor jagte polternd die grausige, wilde, verwegene Jagd: Phryne, der weiße Bock, an seinem Stummelschwanz hängend, verzweifelt schreiend, der Junge Bälgetreter. Aus der Chorbank links, wo er sichtlich wie ein Jäger auf Ansitz gesessen hatte, schoß hervor, einen Schirm schwingend, der kleine verwachsene Kantor Bockmann, erregt flüsternd und scheuchend: Wistu!
    Und aus der Bank rechts der tüterige Wollenzien: Min leiwe Zickenbuck! Kumm to ol Vadder Wollenzien!
    Aber der Bock, über seine Feinde triumphierend, riß sich los, der Junge stürzte, der Kantor floh in Bankdeckung vor den Hörnern, kläglich protestierte Wollenzien: I du Deibelsvieh! Stöten wist du?
    Der Bock sprang auf eine Chorbank, auf das breite, geschnitzte Geländer des Chors, hoch thronte er über der Gemeinde, aus der unterdrückte Rufe, Gelächter, Angstkreischen laut wurden. Mit wackelndem Bart, drohenden Hörnern, frechen Augen stand der Bock unerreichbar auf dem Geländer – und sah plötzlich seine Liebe, den Superintendenten, den versteinerten, auf der Kanzel. Phryne schmetterte sein triumphierendes Meck und Mäh, er schien den Zwischenraum zwischen Chor und Kanzel zu messen, näher wollte er seiner Liebe, und der erwachte Superintendent warf mit einem lang nachhallenden Knall die Tür hinter sich zu. Die Kanzel war leer.
    |126| Aber ach, diese Wut in der Sakristei, diese hilflose, zitternde Wut! In allen Häusern der Insel, in ihren spätesten Geschlechtern wird man immer noch die Geschichte vom Ziegenbock erzählen, der seinen Superintendenten von der Kanzel vertrieb. Marder hatte eine kräftige, lederhafte Haut. Sie mochten ihn filzig, flusig, sonstwas schelten, aber lächerlich, dies nein. Lächerlich durfte er nicht sein! Er biß die Zähne zusammen, er überwachte selbst den Abtransport des Bockes, er schloß ihn selbst in die Räucherkammer ein, aus der unmöglich zu fliehen war. Er steckte den Schlüssel in die Tasche und begann den Gottesdienst von neuem. Mochte aller Hausfrauen Essen anbrennen, so leicht wollte er es ihnen denn doch nicht machen. Und er betete unerbittlich lange für die bösen Buben, die solche Streiche trieben …
    Aber, wieder zu

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