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Wir hatten mal ein Kind

Wir hatten mal ein Kind

Titel: Wir hatten mal ein Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Fallada
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Wie die Leute sich die Mäuler zerreißen würden. Wie das Konsistorium untersuchen würde!
    Er schauderte, und dann gab er sich mit aller Willenskraft einen Ruck … nichts, er fällt zurück, willenlos, wie ein Baby, das noch nicht laufen kann, das kriechen muß.
    |138| Das Wort kriechen gab ihm einen neuen Gedanken ein. Es war nicht weit zur Superintendantur, keine hundertzwanzig Schritte, durch die blattlose Fliederhecke konnte er die Hausmauer wie ein schwarzes, drohendes Untier sehen. Kriechen, jawohl, man konnte vielleicht hinkriechen. Aber es ging doch nicht. Das tat er nicht. Dagegen wehrte sich alles in ihm. Kriechen, wegen eines lächerlichen Bockes, er hatte zu Haus eine ganze Bibliothek mit über tausend Bänden, Geist der Besten der Nation, und hier kriechen!? Lieber saß er, bis er erfror. Er spürte schon, wie die Eiseskälte vorrückte, ihn zu schütteln anfing – er entwarf eine Todesanzeige, tief betrauert – von wem eigentlich tief betrauert? – ein Opfer seines Berufs, auf dem Weg zu einem Sterbenden ausgeglitten, erfroren.
    Lieber Marder, alles Unsinn, hirnverbrannter, unsinniger Unsinn! Wenn er wenigstens bis zu jenem Kreuz käme. Er war überzeugt, er konnte sich an diesem gußeisernen Kreuz hochziehen, und einmal aufrecht, würde es schon gehen. Er mußte bis dahin kriechen. Kriechen? Nein! Nein! Ach, nur diese fünf Schritt, keiner würde es sehen, er selbst würde eine solche Kleinigkeit in ein paar Tagen vergessen haben … Man mußte es sich überlegen … Wenn er wenigstens einen Schnaps hier gehabt hätte, ein Schnaps würde ihn schon auf die Beine bringen … Da, wieder der Versucher, war er noch immer nicht kuriert? Er schlug wütend auf seine Beine.
    Es schmerzte, wirklich, es schmerzte. Und langsam und vorsichtig, sich anhaltend, sich stützend auf dem Boden, richtete er sich Zentimeter um Zentimeter auf. Wirklich – er stand! Er sah langsam mit einem törichten Lächeln um sich. Die Welt sah sehr verschieden aus, wenn man saß und wenn man stand. Er hatte noch nie auf seinem Friedhofe gesessen. Dieses gußeiserne Kreuz da, kaum einen Meter hoch – vor drei Minuten hatte er sich danach gesehnt! Er hätte nie gedacht, was ein Mann in seinem Alter noch für Dinge erleben konnte! Dieses gußeiserne Kreuz von dem alten Voßwinkel, richtig das Kreuz von dem alten Voßwinkel! Es imitierte ein Eisernes Kreuz. Voßwinkel hatte bei Mars-la-Tour mitgekämpft. |139| Er wußte alles. Noch war nichts verloren. Es war eine Warnung gewesen.
    Und während er dies alles dachte, war er Schritt für Schritt vorwärts gekommen, hatte die kleine eiserne Friedhofspforte aufgestoßen, rostknirschend war sie hinter ihm zugefallen. Nun ging er schon, immer langsam und behutsam, über den Kies des eigenen Gartens, um das dunkle Haus herum, das eben noch so unerreichbar weit weg gewesen war. Er tastete, sich sorgsam an der Wand haltend, die etwas vereisten Stufen zu seiner Haustür empor. Er drückte die Tür auf, die nur angelehnt gewesen war – gottlob, nun stand er in seinem Haus, seiner Halle. Es war noch einmal gnädig abgegangen. Wenn ihm hier etwas geschah, konnte er seine Haushälterin, Frau Witte, rufen, und die Witte sprach nie ein Wort zuviel. Aber besser immerhin, auch sie erfuhr nichts.
    Vorsichtig ging er nun im Dunkeln die wohlbekannte, breite Treppe hinauf, hielt sich immer gut am Geländer fest, kam in den ersten Stock, wo sein Schlafzimmer lag. Er ging sachte über den teppichbelegten Flur, flüchtig mußte er an den schreiend bunten Kokosläufer im »Schwedischen Hof« denken und an die verzweifelte Stimme von Frau Reese: O Gott, und was soll aus mir werden? Er drückte auf die Klinke zu seinem Studierzimmer und blieb, wieder ganz schwach in seinen Knien, stehen. Wie vom Donner gerührt! Ein schwaches Meck tönte ihm entgegen. Eine Sekunde stand er entschlußlos im Dunkeln. Dann riß er sich zusammen, er durfte seinen Ohren nicht trauen, er mußte alle Sinne zu Hilfe nehmen, und er drehte das Licht an. Da – es hatte ihn also doch gefaßt! Er hatte Halluzinationen wie sein verstorbener Bruder! Auf seinem Schreibtisch, zwischen Papieren, Tinte, Kalender, lag der Bock Phryne, den er heute morgen um den Finkenhaken hatte fahren sehen. Lag da, blinzelte ihn mit seinen frechen, hellen Augen an und sagte: Meck.
    Und sehr rasch: Meckermeckermeck.
    Der Superintendent Marder stand eine lange, lange Weile bewegungslos. Er hätte nie sagen können, was er in diesen |140| Sekunden oder Minuten

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