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Wir hatten mal ein Kind

Wir hatten mal ein Kind

Titel: Wir hatten mal ein Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Fallada
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Gotteshaus reden zu hören. Marder ist ganz kochende Wut, jetzt wird er es ihnen geben, in ihre schadenfroh grinsenden Gesichter hinein, jetzt aber …!
    Zu seiner Überraschung tut er etwas ganz anderes. Er dreht das Gesicht von all den Leuten weg, er ruft zu Reese: Noch einen und zahlen! Er trinkt hastig, fragt ungeduldig: Wieviel? Was, sechs Mark dreißig?! Na ja, schön, gut. Guten Abend, meine Herren. Für Ihre Albernheiten habe ich wenig Sinn.
    Dabei ist er sich klar dessen bewußt, daß er das Gegenteil von dem tut, was er vorhatte. Daß er ganz entgegen seinen Plänen in dem Augenblick fortgeht, wo sie über ihn zu reden |136| anfangen. Aber er geht, geht über den Marktplatz und zuckt nur verächtlich mit der Achsel, als er ein schallendes Gelächter aus der Wirtschaft hört.
    Es ist der Alkohol bei mir, sagt er sich, aber ich bin noch ganz klar. Ich kann auch noch sehr gut gehen, trotzdem es wieder übergefroren hat.
    Er freut sich, daß er das gemerkt hat, daß es übergefroren hat. Er ist also noch ganz in Ordnung. Jetzt gehe ich noch über den Kirchhof, und dann lege ich mich ins Bett. Lächerliche Geschichten. Erstens ist der Bock noch gar nicht geschlachtet und zweitens habe ich ihn um den Finkenhaken herumfahren sehen.
    Er geht auf den Kirchhof. Dort ist es im Mondlicht geisterhaft bleich, wie es ja auch gar nicht anders sein kann. Die schön polierten schwarzen und grünen Grabsteine haben weiße Hauben, und auch in die eingemeißelte Schrift hat sich Schnee gesetzt. Der Superintendent ist wieder einem Gedanken für seine nächste Predigt auf der Spur, der diesem Schnee, der Grabschriften verwischt, gerecht würde. Aber er kommt davon ab, als er entdeckt, daß die schöne Fliederhecke an der Kirchhofsmauer noch immer ihre vertrockneten Blütendolden aus dem vergangenen Frühjahr trägt. Dieser Mensch, dieser Wollenzien, hundertmal hat er es ihm gesagt, und nun ist es doch immer noch nicht geschehen! Aber dann kam der Superintendent auch davon wieder ab, er stolperte nämlich, und als er sich wütend umdrehte und nach dem Gegenstand ausschaute, über den er gestolpert war, wurden seine Beine plötzlich ganz weich. Sie fingen an zu zittern – und Superintendent Marder setzte sich sanft auf den Kirchensteig. Ganz sanft. Nein, er hatte sich nichts getan. Da saß er nun und starrte ärgerlich auf seine Beine, die ihn so schmählich und verräterisch im Stich gelassen hatten. In den ersten Minuten übersah er das neue Erlebnis noch nicht in seiner vollen Tragweite. Er saß nicht schlecht, er wollte sich nur einmal besinnen und dann wollte er schleunigst nach Haus gehen und sich ins Bett legen.
    |137| Aber ein wenn auch nur leicht übergefrorener Boden ist zu kühl für längeres Sitzen. Marder wollte hoch. Er sah rasch um sich. Es war alles totenstill und einsam. Kein Mensch beobachtete ihn. Er stützte sich auf beide Hände und wollte hoch, etwa wie eine Kuh, die auch mit dem Hinterteil zuerst aufsteht. Es ging nicht. Die Beine versagten ihm, er setzte sich wieder. Es ging und ging nicht. Zornig starrte er auf seine Beine. Er holte langsam mit der Faust aus und traf zielbewußt erst das eine, dann das andere. Es war, wie er befürchtet hatte: er fühlte nichts! Von oben gerechnet, war bis zum Gesäß Leben in ihm, aber von da an war alles tot, abgestorben, wie einfach nicht da.
    Er starrte diese Beine an, da lagen sie im Mondlicht klar und deutlich vor ihm, in den derben Schuhen, den schwarzen, etwas beutligen Hosen. Über den Schuhrand sah ein Wulst der grau gestrickten Wollstrümpfe. Sie waren da, aber sie waren nicht da. Es war wie verhext! Nein, es war gar nicht verhext. Alles war ganz klar, es war der Alkohol. Plötzlich mußte er an seinen so schrecklich gestorbenen Bruder denken. Er merkte, daß der den ganzen Abend in ihm gewesen war und gespenstert hatte. Wahrhaftig, er hätte doch Bescheid wissen sollen, er hätte doch wissen sollen, daß für die Marders wenigstens Alkohol das reine Gift war! Und er ging hin mit seinen siebenundfünfzig Jahren und soff sich wie der dümmste grüne Bengel einen an, bloß um bei den Bauern etwas zu gelten!
    Schreckliche Worte gespensterten in ihm: halbseitige Lähmung, ganzseitige Lähmung, motorische Störungen … Er malte es sich aus, wie er heute nacht oder gar erst morgen früh am hellen lichten Tage hier gefunden werden würde, wie man ihn ins Haus tragen würde, dem ersten besten Säufer gleich, der zuviel gekippt hatte – und er hatte zuviel gekippt!

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