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Wir hatten mal ein Kind

Wir hatten mal ein Kind

Titel: Wir hatten mal ein Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Fallada
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schwärzlich absterbendem Kraut stehen die Kartoffeln. Nun klappern auf allen Mietenplätzen die großen blau und roten Kartoffelrummeln und sortieren Speisekartoffeln, Saatkartoffeln, Futterkartoffeln. Alle Tätigkeit hat Beziehungen zum Wetter, zur Jahreszeit, zur Natur also – aber Johannes Gäntschow geht weiter mit einer Büchertasche zum Superintendenten Marder. Und ob es warm ist oder kalt, ob Sonne scheint oder Regen fällt, in Frühling, Sommer, Herbst und Winter lernt er von acht bis neun dies, von neun bis zehn das, von zehn bis elf jenes. Er hat mit Gedrucktem zu tun, mit Büchern, Tinte, Papier. Er ist herausgenommen aus dem |179| natürlichen Kreislauf der Dinge. Es kann vorkommen, daß sein Vater selbst aufhorcht, wenn Johannes den Mund auftut und etwas erklärt.
    Wenn er an einem Nachmittag mit seinen Schulaufgaben fertig ist und auf den Hof kommt, zu den Arbeitern ins Feld geht, zu seinen Brüdern und Schwestern, so heben sie den Kopf und nicken ihm zu. Aber keines erwartet, daß er nun etwa mithilft. Es kann geschehen, daß es ihm in den Händen juckt, daß er sich einen Rechen sucht und zum Heuen geht, seine Glieder, seine Knochen, seine Muskeln – alles schreit nach vernünftiger Arbeit – laß sie schmunzeln über ihn. Aber ehe er sich versieht, ist ihm seine Harke fortgenommen und eine Schwester sagt mahnend: Denk an dein gutes Zeug.
    Richtig, seine Geschwister tragen weiter altes, verbrauchtes Zeug, auf das die Mutter die irrsinnigsten Flicken setzt. Vaters Joppe sieht man überhaupt keine Ursprungsfarbe mehr an, und alle laufen auf Holzpantinen. Aber Johannes geht daher in feiner, neuer Stadtkleidung. Er trägt Lederschuhe und schöne Strümpfe. Er gehört nicht mehr zu ihnen. Nicht mehr in der Kleidung, nicht mehr in der Arbeit.
    Damals, nach jenem Abenteuer auf der Eisscholle, hat der Graf eine lange Unterredung mit dem Vater gehabt. Nicht etwa auf dem Schloß, nicht etwa mit einem Vierergespann vorgefahren, ganz schlicht in der Joppe, mit einem Handstock ist der Graf angekommen auf dem Hof. Hat über die Meute gelacht und mit Vater gesprochen. Seitdem gibt der Graf eine »Erziehungsbeihilfe«. Den Namen hat Superintendent Marder erfunden, der vielleicht am meisten bei der neuen Regelung profitiert.
    Oh, Johannes ist ein Turm von Gelehrsamkeit geworden. In seinem Kopf schwirrt es von Vokabeln, Brüchen, Gedichten, Liedern, von Regeln und Ausnahmen, von Fällen, Beweisen, Staubgefäßen und Stempeln. Sein Hirn ist ein dankbarer Acker. Es nimmt alles auf, und es erschreckt ihn nicht, wenn der Graf ihm erzählt, daß er bis zu seinem Abiturium noch wird lernen müssen: dreitausend Jahreszahlen, fünftausend |180| Städte-, Fluß- und Ländernamen, sechshundert Pflanzen, siebenhundert Tiere, eintausend französische Vokabeln, eintausend englische, eintausend lateinische, eintausend griechische; fünfhundert mathematische, physikalische, geometrische Formeln, zehntausend Regeln und Ausnahmen …
    Er lächelt dann nur, wenn der Graf ihm so etwas erzählt, jawohl, jetzt lächelt er den Grafen schon genauso unbefangen an wie jeden andern: er verkehrt auf einem Grafenschloß. Er macht vor Mademoiselle, einer sehr üppigen, heroischen Dame, einen Diener, er schüttelt der Miss die Hand, und Kutscher Eli hört aufmerksam und mit unbewegtem Gesicht zu, wenn Johannes ihm etwas sagt. Er hat schon auf einem Reitpferd gesessen und ist nicht heruntergefallen, und seine Altersgenossen, die mit ihm gemeinsam auf die »Doofschule« gingen, werden jetzt rot und verlegen, wenn er mit ihnen spricht.
    Sicher macht ihm das alles Freude und stärkt seinen Stolz – dafür ist er jung, er ist ja erst zwölf, dreizehn, vierzehn Jahre alt. Aber wenn er so rasch und scheinbar so schmerzlos die alte Haut abgestreift hat, dann nicht darum, weil sie nie sehr fest saß, nicht einmal darum, weil er ein wendiger Mensch ist, der sich in alles findet, sondern darum, weil er schon jetzt, sich selbst ganz unbewußt, das Gefühl hat, daß man viele Häute im Leben tragen und doch immer Johannes Gäntschow bleiben kann.
    Denn jetzt schon – ach, was wußten die denn von ihm?! Gab es etwa keine Höhle in der tiefen Düneneinsamkeit, unter deren Dach Christiane und er manches Gewitter überdauerten? Hatte ihm etwa der Bullenberger kein kleines Segelboot geschenkt, das allen andern unbekannt tief im Schilf bei Rakow lag und mit dem sie über die See flitzten, wilde, selbst erfundene Seeräuberlieder singend? Mademoiselle hat gut

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