Wir in Kahlenbeck: Roman (German Edition)
dann auch die Gefahr , wenn man sich der Sinnlichkeit erst einmal unterworfen hat , daß sie immer mehr verlangt. Sie ist ja ihrer ganzen Verfaßtheit nach auf Entgrenzung ausgerichtet , insofern stellt sie so etwas wie den dunklen Schatten unseres immerwährenden Verlangens nach Gott dar , das sich nicht zuletzt auch in der unbändigen Kraft unseres Begehrens zeigt , oder wie Nietzsche es formuliert hat: Denn alle Lust will Ewigkeit / will tiefe , tiefe Ewigkeit . Bloß eben auf eine völlig ungeordnete Weise , so daß man nach immer neuen Ufern und schließlich nach der Uferlosigkeit selbst verlangt …«
»Ich kann mir ungefähr vorstellen , was du meinst.«
»Entschuldige.«
»Ist in Ordnung.«
»Wirst du …«
»Was mich wundert , ist , daß du Nietzsche zitierst. Ich dachte , seine Bücher stünden auf dem Index.«
»Nietzsche in seiner Radikalität ist durchaus auch in Bereiche der tiefsten Wahrheit vorgedrungen. Die Verzweiflung , die sich seiner mehr und mehr bemächtigt , macht ja geradezu beispielhaft die Konsequenzen einer Philosophie deutlich , die sich der Liebe und Barmherzigkeit Gottes verschließt. Man kann fast sagen , daß der Aufschrei , der sich vor allem in seinen Gedichten findet , dem Schrei des Gekreuzigten Mein Gott , mein Gott , warum hast du mich verlassen? ganz nahe ist. Erst in der Erfahrung vollständiger Gottesferne wird das Opfer des Sohnes am Kreuz vollständig und kann vom Vater als Sühne für die Sünden aller angenommen werden.«
Kuffel geht ans Bücherregal , zieht Das große Buch der deutschen Dichtkunst heraus. Blättert , reicht es Carl aufgeschlagen , setzt sich wieder. Carl lächelt ihn an , so warmherzig es geht , ohne mißverständlich zu sein , liest:
O Mensch! Gib acht!
Was spricht die tiefe Mitternacht?
Ich schlief , ich schlief – ,
Aus tiefem Traum bin ich erwacht: –
Die Welt ist tief ,
Und tiefer als der Tag gedacht.
Tief ist ihr Weh – ,
Lust – tiefer noch als Herzeleid:
Weh spricht: Vergeh!
Doch alle Lust will Ewigkeit – ,
- will tiefe , tiefe Ewigkeit!
Carl denkt an Ulla , an das , was noch vor ihnen liegt , die Wiedervereinigung des Kugelmenschen. Schiebt jedes Bild weg , das einen Mann enthält. Spürt , wie Kuffels linke Hand ihm mit äußerster Vorsicht den Knöchel entlangstreicht. Schaut nicht auf. Beginnt das Gedicht von neuem. Immer noch das Auf und Ab von Kuffels Hand zwischen Fuß und Wade , das Kitzeln der Haare am Schienbein. Er sollte sein Bein entschlossen wegziehen. Zieht sein Bein nicht weg.
»Stört dich das sehr?« , fragt Kuffel kaum hörbar.
Im selben Moment knallt von außen ein kurzer harter Schlag gegen die Zimmertür , ist die Tür schon auf , ohne daß jemand › Herein ‹ gesagt hätte.
Holzkamp steht im Zimmer und sagt: »Oh , Verzeihung. Mir war nicht klar , daß ich euch in einem äußerst intimen Moment stören würde. Soll ich wieder gehen? Nicht daß ich hier athenischem Liebesglück in die Quere komme.«
Kuffels Hand ruht bewegungslos auf der Bettkante. Schwer zu sagen , ob Holzkamp sie noch an Carls Knöchel gesehen hat , falls ja , ob ihre Bewegung als Zärtlichkeit zu erkennen gewesen ist.
»Du störst nicht« , sagt Kuffel. »Setz dich. Wir unterhalten uns über Nietzsches Verzweiflung. Willst du auch einen Schluck Wein?«
»… hast du ihm erzählt , wie er in Turin auf offener Straße plötzlich weinend einem alten Droschkengaul um den Hals fällt und daß er den Rest seines Lebens in geistiger Umnachtung verbringt? – Syphilis. Vermutlich von einer Prostituierten.«
Einundzwanzig
Es schneit. Der Schnee ist naß und schwer. Obwohl der Vater dagegen war , fährt die Mutter Carl mit dem Wagen nach Mariendorn. Sie hofft , daß die Ferien dann ohne weiteren Streit zu Ende gehen. Entlang der Straße verschwinden Äcker und Wiesen unter Matsch. Verkrüppelte Kopfweiden treten aus dem Grau wie Zeichen für etwas anderes. Die Mutter unternimmt immer neue Versuche , ein Gespräch anzufangen , um die Gefahr zu bannen , die Carl durch das fremde weibliche Wesen droht. »Zu unserer Zeit wäre es unvorstellbar gewesen , daß eine junge Frau sich mit einem …«
Sie weiß nicht , als was sie ihn bezeichnen soll.
»… daß man sich in einer Wohnung getroffen hätte , ohne sonstjemanden dabeizuhaben.«
Carl sagt nichts. Seine Handflächen schwitzen auf der kleinen Plastiktüte , in der seine Geschenke sind: eine chinesische Dose , gefüllt mit Vanilletee , dazu eine Kassette , auf die er das erste
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