Wir in Kahlenbeck: Roman (German Edition)
dieser im Papierkorb landen. Sobald etwas auf dem Blatt steht , habe ich das Gefühl , es ist falsch: Was ich Dir schreibe genauso , wie daß ich Dir überhaupt schreibe. Trotzdem fange ich wieder an und hoffe , daß ich diesmal einen Brief fertigbekomme und daß er dann nicht bei der Post oder in der Verwaltung verschwindet. Gleichzeitig habe ich Angst , daß Du wütend auf mich bist , wenn Du ihn liest , obwohl ich das sogar verstehen könnte.
Es ist einfach so: Ich vermisse Dich furchtbar.
Ich weiß , ich bin selber schuld , schließlich habe ich Schluß gemacht und Dir damit sehr weh getan. Ich will nicht einmal zurücknehmen , was ich vor drei Monaten gesagt habe. Damals hat es gestimmt , und die Gründe , die ich Dir genannt hatte , gelten eigentlich noch immer , aber das ändert nichts an der Tatsache , daß Du mir fehlst. Da , wo Du warst , klafft ein Riesenloch in meinem Leben.
Versteh mich nicht falsch: Ich sitze nicht abends allein auf meinem Zimmer und heule mir die Augen wund. Ich habe eine Menge Freunde hier in Mariendorn , ich verstehe mich gut mit meiner Familie und mag meine Kollegen – jedenfalls die meisten. Wenn ich freihabe , bin ich viel unterwegs. Ich werde auf Partys eingeladen , treffe Leute zum Tanzen , wir gehen in die Kneipe oder ins Kino.
Eigentlich ist alles so , wie es sein soll.
Aber schon eine Woche nach unserem letzten Telephongespräch , als ich Deinen Abschiedsbrief mit der Kassette und diesem wunderschönen , todtraurigen Lied in den Händen hielt , habe ich gemerkt , daß ich nicht glücklich bin über das , was passiert ist , beziehungsweise , was ich getan habe. Jedesmal , wenn ich das Lied gehört habe , mußte ich weinen , und mit den Tränen kam all das hoch , was ich mit meiner Entscheidung eigentlich loswerden wollte , nämlich daß Du einen Platz in meinem Leben hast , den kein anderer einnehmen kann. Inzwischen weiß ich , daß ich diesen Platz auch niemand anderem geben will.
Du sitzt jetzt wahrscheinlich in Deinem alten Sessel mit den abgesägten Beinen , schaust Deine Fische an , schüttelst den Kopf und denkst: › Das hätte sie sich auch früher überlegen können. ‹
Stimmt , das hätte ich und hätte ich doch nicht. Damals schien es mir , daß wir zu verschieden sind in dem , wie wir denken , und daß der Altersunterschied zwischen uns unüberwindlich groß ist. Ich habe es nicht mehr geschafft , an unsere Zukunft zu glauben. Und weil ich nicht wußte , wie wir zusammensein können , habe ich mir eingebildet , wenn ich Schluß mache , verschwindest du nicht nur aus meinem Leben , sondern auch aus meinen Gedanken. Ich habe einfach nicht begriffen , was Du als Du , der Du bist , mir bedeutest.
Gerade habe ich noch einmal gelesen , was ich bis jetzt geschrieben habe , und immerhin: Ich habe es nicht weggeworfen.
Vor mir auf dem Schreibtisch liegen immer noch Deine Briefe. Ich lese oft darin und frage mich , was Du wohl gerade machst – wie in dem Lied: ob Du vielleicht in Gedanken gerade bei mir bist , zornig oder traurig , oder ob Du mich schon aus Deiner Erinnerung gestrichen hast. – Aber vielleicht zählt ja auch der Schluß , daß ich noch immer die Möglichkeit hätte , zu Dir zurückzukehren , daß Du sogar darauf wartest?
Wenn ich mir vorstelle , ganz bildlich , daß ich mit Dir zusammen bin , wie wir nach Weihnachten hier zusammen waren , zerspringt mir das Herz vor Glück , und im nächsten Moment schnürt es mir die Kehle zu , weil ich weiß , daß es wahrscheinlich nie wieder so sein wird. Aber das würde bedeuten , daß ich mit gerade einmal neunzehn schon einen von den Riesenfehlern gemacht habe , die man sein Leben lang bereut.
Manchmal habe ich gedacht , daß ich einfach in den Zug steige und mich bis nach Kahlenbeck durchschlage , an einem Tag , an dem Du Ausgang hast , Donnerstag oder Dienstag oder Sonntag , und solange beim Steingregor warte , bis Du kommst. Aber dann habe ich mich doch wieder nicht getraut. Du weißt ja , ich bin ein Feigling.
Vielleicht wäre es richtig , wenn ich es täte?
Zumindest eine kleine Hoffnung habe ich , und weil ich diese Hoffnung habe , schreibe ich Dir diesen Brief: Es könnte doch sein , daß ich Dir in Deinem Leben zumindest ein winziges bißchen mehr fehle als Du wütend auf mich bist …
Vorgestern habe ich Andrea getroffen , und sie hat mir erzählt , daß sie übernächstes Wochenende nach Kahlenbeck fährt , um Emma und Iris zu besuchen. Ohne daß ich groß darauf reagiert habe , fragte sie
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