Wir in Kahlenbeck: Roman (German Edition)
Stock , der Hund bringt ihn zurück , wird gelobt. Immer dasselbe Spiel. Ihre langen braunen Haare flattern im Wind. Durch das Fernglas läßt sich ihr Alter schwer schätzen. Zwischen zwanzig und vierzig. Sie setzt sich in den warmen Sand , lehnt sich zurück , schließt die Augen , spürt die Sonne durch die Kleider auf der Haut.
Guntram ist noch in Lenza. Ihn wird er nächste Woche besuchen , wenn die Bergfreizeit vorbei ist. Vor Beginn der Ferien haben sie sich wieder gut verstanden. Guntram hat ihm von sich aus auf dem Klavier vorgespielt , Beethovens Pathétique und Nocturnes von Chopin. Im Hinblick auf den Glauben sind sie ohnehin weitgehend einer Meinung , wobei Guntram die Unvereinbarkeit von Evolutionstheorie und Christentum weniger dramatisch findet als Kuffel. Guntram denkt tatsächlich ernsthaft darüber nach , Priester zu werden , obwohl er noch immer mit Irma zusammen ist.
Zwei schwarze Vögel , die wie Kormorane aussehen , fliegen knapp über der Wasseroberfläche flußaufwärts. Kormorane stehen auf der roten Liste der vom Aussterben bedrohten Arten ganz oben. Trotzdem läßt es ihn merkwürdig kalt. Vergangenes Jahr , als er zum ersten Mal Rotschenkel gesehen hat , haben ihm die Hände gezittert vor Aufregung.
Er schreibt »Kormorane!?!« in sein Notizheft , versucht die Flugsilhouette zu skizzieren , um sie später mit den Abbildungen im Bestimmungsbuch zu vergleichen.
Wahrscheinlich wäre es besser gewesen , er hätte sich auch für die Schweizfahrt angemeldet , aber diesmal waren die Plätze früh vergeben. Rasche ist nicht dabei , und es wurden keine Küchenmädchen mitgenommen. Was bleibt , außer Vogelbeobachtung? Lesen , wenn es regnet. Oder er versucht sich an wissenschaftlichen Zeichnungen von bleichen Schädelchen , die er am Fluß gefunden hat: eine Möwe , ein Graureiher , ein Schwan , dessen Schnabel fehlt. Der neue Biologielehrer , Herr Neynhuis , sagt , daß man im Studium ständig Präparate zeichnen muß: Je genauer die Zeichnungen sind , desto besser versteht man , was man sieht.
Und immer wieder die Hoffnung , es könnte sich doch etwas ereignen: eine Begegnung , die alles umwandelt.
»Wir sind völlig fertig. Auch meine Eltern. – Die Anzeige aus Kahlenbeck ist erst heute mittag bei uns angekommen. Also vor gerade mal drei Stunden. Und es hatte ja vorher niemand hier angerufen.«
»Von uns hat noch immer keiner wirklich begriffen , was eigentlich passiert ist« , sagt Guntram , »obwohl wir es am selben Abend erfahren haben.«
»Wahnsinn.«
»Das kannst du laut sagen.«
»Und wann war das?«
»Heute vor einer Woche.«
»Also letzten Dienstag.«
»Wir saßen im Speiseraum und haben auf das Abendessen gewartet. Eigentlich wie immer. Du kennst das ja. Wobei natürlich alle gespannt waren , wann endlich Nachrichten aus Chamonix kommen und ob es diesmal geklappt hat …«
»Es war sein fünfter Anlauf , oder?«
»Genau. Der letzte vor drei Jahren. Den haben sie wegen schlechten Wetters abgebrochen. Zum ersten Mal hat er es , glaube ich , 1962 oder ’63 versucht. Da war er noch gar nicht in Kahlenbeck … – Jedenfalls kommt auf einmal Lohfing herein , direkt dahinter Adelgundis und Pankratia , die aber keine Schüsseln in der Hand haben wie sonst , alle drei tränenüberströmt , und Lohfing sagt: › Es gibt eine schlimme Nachricht: Der Präses ist tot. ‹ – Im ersten Moment hat natürlich jeder gedacht , der macht einen Witz , und gleichzeitig , das kann gar nicht sein , mit so etwas macht er doch keine Witze …«
»Unfaßbar.«
»Über die genauen Umstände wisse er noch nichts , er habe noch nicht mit Heinz-Bernd sprechen können , Heinz-Bernd sei aber wohl nichts passiert , außer daß er natürlich unter Schock stehe.«
»Es hatte doch immer geheißen , eine der Routen sei völlig ungefährlich und daß sie auf jeden Fall die nähmen.«
»Er ist wohl auch nicht durch einen Fehler abgestürzt oder durch eine Lawine , sondern die Obduktion hat ergeben , daß er einen Herzstillstand hatte.«
»Sie haben ihn obduziert? Aufgeschnitten und alles? Wozu das denn?«
»Anscheinend ist das üblich. Immerhin haben sie es sofort gemacht , und wir mußten nicht endlos auf das Ergebnis warten – vor allem Heinz-Bernd.«
»Aber bei jemandem wie Roghmann , der kein gewöhnlicher Mensch war , da kann man doch nicht einfach hingehen und anfangen zu …«
»Die wollten Beweise , um sicher zu sein , daß sie nicht wegen Mord ermitteln müssen.«
»… zu
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