Wir in Kahlenbeck: Roman (German Edition)

diese Beobachtungen je zu etwas nütze sein werden.
    Auf seiner Seite festigen Basalttrümmer das Ufer. Er klettert die Böschung zu einer der Kribben hinunter , die zehn Meter weit in den Fluß reichen , geht vor bis in die Spitze , wo das Signalschild für die Schiffsführer einbetoniert ist. Setzt sich. Wirft Steine. Auf der stromabgewandten Seite treiben tote Weißfische in Altöl. Schwarzer Schmier markiert die Pegelstände auf den Felsblöcken.
    Ein Anflug von Trauer , daß der Mensch die Erde zugrunde richtet: Trotz allem war sie ein schöner Ort.
    Sehr langsam sucht er mit dem Fernglas das Gelände ringsum ab. Vielleicht ist jemand in der Nähe , den er kennenlernen könnte , ein Mädchen , eine Frau , die spazierengeht , weil sie sich auch für die Natur interessiert , oder eine , die halb versteckt hinter Büschen in der Sonne liegt , mit nackten Brüsten.
    In Henneward will niemand etwas mit ihm zu tun haben , und ihn interessieren die Leute aus Henneward nicht. Abgesehen von Regina. Was nichts ändert. Er hat keine Ahnung , was er mit den verbleibenden dreieinhalb Wochen Sommerferien anfangen soll. Alle , die er mag , sind verreist oder wohnen weit weg.
    Ulla muß arbeiten , weil Kolleginnen mit Schulkindern bei der Urlaubsplanung bevorzugt wurden. Einen Freund , der zur Schule geht , wollte sie nicht geltend machen , zumindest nicht , solange Zweifel bestehen , daß sie überhaupt wieder richtig zusammen sind. Abgesehen davon ist es noch komplizierter , mit dem Bus von Henneward nach Mariendorn zu kommen , als von Mariendorn nach Kahlenbeck. Er hat die Mutter bis jetzt noch nicht wieder gefragt , ob sie ihn mit dem Wagen bringt. Seine Eltern gehen davon aus , daß es zwischen ihnen seit Monaten keinen Kontakt mehr gibt. Er ruft Ulla alle paar Tage heimlich von der Telephonzelle beim Bäcker aus an. Es ist kein Ortsgespräch und kostet ein Vermögen. Sie unterhalten sich längst nicht wieder so vertraut wie vor dem Bruch. Ulla versucht nichts Falsches zu sagen , und er will den Anschein vermitteln , alles wäre in Ordnung , aber es gelingt ihm nicht , sich die Tatsache aus dem Kopf zu schlagen , daß sie drei Monate lang einfach aufgehört hat , ihn zu lieben. Als wäre die Liebe ein Mantel , den man den Sommer über in den Schrank hängt und im Herbst wieder hervorholt.
    Ihr zu vergeben hingegen war leicht.
    Kuffel ist mit Holzkamp für drei Wochen zur Gräfin Warnstorf ins Sauerland gefahren. Carl hat überlegt , sich ihnen anzuschließen , sie wenigstens zu besuchen , aber Holzkamp wurde derart bösartig , als Kuffel die Möglichkeit andeutete , daß er es lieber gelassen hat. Angeblich wird auch der Kardinal einige Tage aus Rom nach Sudentropp kommen und vor einem ausgewählten Kreis über das Verhältnis von Glaube , Vernunft und Irrationalismus in der sogenannten Theologie der Befreiung sprechen. Kuffel geht davon aus , daß es jetzt , wo der Kardinal die Stellung des obersten Glaubenshüters innehat , mit den kommunistischen Umtrieben in Teilen des südamerikanischen Klerus bald vorbei sein wird.
    Es sind Kuffels letzte Sommerferien. Für die Abiturienten endet der Unterricht im April , es bleiben noch sieben Monate. Zu allem Überfluß wohnt er jetzt im Primanerbau. Die Maxius hat ihn aus reiner Bösartigkeit in ein düsteres Loch gesteckt , zehn Quadratmeter im ersten Stock , gleich neben den Toiletten , mit Blick auf den Graben. Damit sind die Zeiten vorbei , wo Carl bis elf mit ihm reden , Musik hören , Bier trinken konnte: Um Viertel nach neun werden die Türen geschlossen.
    Bei dem Gedanken an den Abschied wird ihm angst und bange. Er muß noch so viel lernen über die Grundlagen des Glaubens. Auf sich allein gestellt , ist sein Herz nicht in der Lage , einen Weg aus dem Abgrund von Sünde und Leichtlebigkeit zu finden. Davor der Winter , Dunkelheit. Schlechte Zeiten. Obwohl Bruder Walter ihm eins von den neuen Zimmern mit Schlafempore und eigenem Waschbecken zugeteilt hat. Er sollte ihm dankbar sein. Für alles , was mit dem Aquarium zu tun hat , bedeutet es eine große Erleichterung. Er hätte trotzdem lieber das alte behalten. Zumal Vincent Färber jetzt sein Nachbar wird. Ein gottloser Darwinist , der Bart mit sich in den Abgrund zieht. Letzten Dienstag , als er Bart in Düsseldorf angerufen hat , hörte er Vincent im Hintergrund Gitarre spielen und lachen. Sie überlegen , eine Rockband zu gründen.
    Auf der anderen Seite des Flusses führt eine Frau ihren Hund aus. Sie wirft einen