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Wir in Kahlenbeck: Roman (German Edition)

Wir in Kahlenbeck: Roman (German Edition)

Titel: Wir in Kahlenbeck: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Peters
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    Hallo!
    Dein Brief ist bei mir angekommen. Ich habe ihn mit sehr gemischten Gefühlen gelesen. Auf der einen Seite finde ich es schön , daß ich außerhalb meiner Familie einem Menschen etwas bedeute , aber so wie du es schreibst , erschreckt es mich in der Hauptsache doch sehr. Bis jetzt haben mich Gedanken dieser Art noch nicht beschäftigt. Ich wüßte auch nicht , daß ich dich dazu in irgendeiner Weise ermutigt hätte. Für mich ist das alles einige Jahre zu früh.
    Laß mir bitte meine jetzige Ausgeglichenheit und Ruhe. Die Musik ist bei mir im Augenblick das Maß aller Dinge , und ich möchte , daß das so bleibt.
    Regina
    Er sucht seinen Namen , um sicher zu sein , daß wirklich er gemeint ist , daß sie nicht aus Versehen den Brief an jemand anderen in den Umschlag mit seiner Adresse gesteckt hat. Wenigstens als sie seinen Namen aufs Papier gesetzt hat , hätte sie ihn vor Augen gehabt , seine Gestalt , sein Gesicht , die Blicke , die zwischen ihnen gewesen sind. Doch ganz gleich , wie verzweifelt er die blauen Tintenlinien auf dem achtlos aus einem Ringbuch herausgerissenen Stück Rechenpapier auch anstarrt , da steht nur Hallo! Keine Anrede , kein Gruß. Nicht ein einziges Mal hat sie Carl geschrieben. Er liest jetzt Wort für Wort , fängt wieder von vorn an , jeder Buchstabe ein Messer , elf Zeilen Grauen , sucht nach Interpretationsspielräumen , zwischenzeiligen Bedeutungen , nach verdeckten Hinweisen auf ihre verfluchten Eltern , die beim Schreiben hinter ihr gestanden , sie zu diesem Brief gezwungen haben , und findet doch nichts außer ungelenken Formulierungen , geradezu beamtenhaft gestelzt , als hätte sie einen ungerechtfertigten Antrag auf staatliche Hilfsleistungen abschlägig beschieden. Jeder dieser glasklaren , stahlharten Sätze trifft ihn wie ein Stiefeltritt , er spricht sie nach , formt sie mit seinen eigenen Lippen , bis die Wörter keine Bedeutung mehr haben , sinnlose Laute sind , an niemanden gerichtete Klanggestalten von nichts im leeren Raum.
    Was geschehen ist mit diesen zwei Menschen , Regina und ihm , zwischen zwei Briefen , hat nichts mit seiner Person zu tun. Es hat auch nichts mit ihr zu tun , selbst wenn sie das glaubt. Es ist ein Mißverständnis , genau genommen eine Verkettung von furchtbaren Mißverständnissen , die sich über Monate aufgetürmt haben , eins auf dem anderen fußend. Die verzauberten Flötenmelodien , die an Weihnachten hinaufgestiegen sind bis an die Grenze von Diesseits und Jenseits , hat es in Wahrheit nie gegeben. Es kann sie nicht gegeben haben , denn ein Wesen , das solche Briefe schreibt , ist nie im Leben die schönste und anmutigste Flötistin unter der Sonne. Über ein Jahr lang hat er Blicke mit niemandem getauscht. Blicke , die ein Strom gewesen sind und alles längs der Ufer mit sich davongetragen haben. Doch der Strom ist im Nichts entsprungen , durch kein Land geflossen , im Nirgends versickert , reine Spiegelung , Hitzeflirren über Ödnis. Die Augen , in die er getaucht ist , haben einem anderen Wesen gehört , einem Irrlicht aus den Zwischenreichen , das sich in jede beliebige Gestalt verwandeln kann. Er ist nicht einmal sicher , daß es sich überhaupt um eine Person handelt , vielleicht hat dieses Irrlicht lediglich etwas reflektiert , ohne zu wissen , was , warum , mit welchen Folgen. Kein Grund , keine Absicht. Reiner Zufall. Der Strahl , der aus der anderen Welt in seine Finsternis gefallen ist , hat keine Ursache gehabt. Was ohne Ursache ist , existiert nicht. Es hat auch nie existiert. Ihm bleibt nichts anderes als hinzunehmen , daß die entscheidenden Momente seiner letzten dreizehn oder vierzehn Monate nicht stattgefunden haben. Alles , was sonst in dieser Zeit geschehen ist , hat er um diese Momente herumgruppiert. Es ist davor oder danach passiert , auf sie hin geplant gewesen , hat sich daraus ergeben. Jetzt bricht es wie ein Block aus dem Gletscher , der sein Leben darstellt , stürzt in das arktische Meer , das in allen vier Himmelsrichtungen bis zum Horizont reicht , treibt als Eisberg davon , um sich im Nebel aufzulösen oder den Rumpf eines Dampfers aufzuschlitzen.
    Er weiß nicht , wie er es in sein Zimmer geschafft hat , seit wann er auf dem Bett liegt. Sein Fuß ist eingeschlafen , das Kribbeln schmerzt. Er steht mühsam auf , setzt sich an den Schreibtisch , stützt den Kopf zwischen die Hände. Auf der papiernen Unterlage steht neben mehreren vergeblichen Versuchen , das Gesicht eines Mädchens zu zeichnen:

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