Wir in Kahlenbeck: Roman (German Edition)
ziehen los , treffen Leute , ich stell’ dir ein paar Mädels von meiner früheren Schule vor. Die sind nett und entspannt und haben eine eigene Meinung , was sie in ihrem Leben wollen: jedenfalls nicht diese Spießernummern. Und sie lassen sich sogar anfassen. Das ist nicht wie bei deinen Kirchenmäusen , wo man erst Verlobungsgeschenke bei den Eltern abgeben muß.«
»Ich fahre jetzt doch mit in die Schweiz , die ersten drei Wochen.«
»Du wolltest doch nicht.«
»Wollte ich auch nicht. Aber Gümmelgurt hat mich Samstag gefragt , ob ich nicht doch Lust hätte , es wären noch drei Plätze frei , und dann habe ich gedacht , bevor ich mich sechs Wochen von meinen Eltern nerven lasse und darüber nachdenke , ob ich nicht von der Brücke springe , fahre ich lieber mit.«
Neun
Bruder Walter klingelt ab , das Mittagessen ist zu Ende. Es gab Schmiersuppe , Rotkohl mit Sägemehlklößen , Schokoladenpudding. Eging steht auf , nimmt den Stapel Briefe von der Anrichte , beginnt vorzulesen: »Post haben: Bartholomäus Scheffzyck , Ansgar Joschrupp , Hartmut Asse , Carl Pacher …«
Carls Magen krampft sich zusammen. Jetzt noch das Gebet.
› Herr , mach , daß es ein Brief von ihr ist , mach daß sie mich liebt. ‹
»… der du lebst und regierst von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen.«
Er stürzt zum Tutortisch , kämpft sich vor , kreuzt Bruder Walters Blick , wundert sich über die hämische Nuance , sieht schon von fern seinen Namen in der unbekannten Schrift , blaue Tinte auf lindgrünem Umschlag mit Leinenstruktur , die Buchstaben eher schmal als bauchig , leicht nach rechts geneigt , sehr akkurat. Er weiß , noch bevor er außer der Adresse etwas gelesen hat , wem sie gehört , wühlt sich durch , greift zu , reißt ihn an sich , hält endlich den Brief in der Hand , zitternd , dreht ihn um , auf der Rückseite steht: Regina Seegers , Im Granendyck 3 , 4286 Henneward. Ihm ist übel wie vor Klassenarbeiten , Mathe , Latein , die Knie weich , Speichelfluß im Mund , Säureflut im Bauch , er schluckt und schluckt und schluckt , um zu verhindern , daß sein Magen sich umstülpt , hält wie betäubt den Brief in der Hand , unfähig einen Gedanken zu fassen. Mit dem zweiten Blick begreift er , daß der Umschlag schon einmal geöffnet worden ist , vielleicht , wahrscheinlich , mit Sicherheit , in der Verwaltung über Dampf oder mit diesem Apparat , den auch die Geheimdienste benutzen , um Post von Gesinnungsverbrechern zu kontrollieren. Im Zimmer hinter dem Publikumsraum der Verwaltung , unter der Haube eines Matrizendruckers , steht so eine Maschine aus den Beständen der GeStaPo-Forch , wird erzählt. Anschließend haben sie den Brief , seinen Brief , mit Tesafilm wieder verschlossen , stümperhaft – das Papier darunter wellt sich von eingeschlossener Feuchtigkeit. Sie haben es nicht einmal für nötig befunden , den Bruch des Briefgeheimnisses , gegen den er ein Gerichtsverfahren anstrengen könnte , zu verschleiern. Es weiß ohnehin jeder , daß die Kontrolle , gegebenenfalls Beschlagnahmung der Post , gängige Praxis ist , wenn es sich beim Absender um eine Person weiblichen Geschlechts handelt , deren Nachname nicht mit dem des Empfängers übereinstimmt. Selbst die Päckchen seiner Großtante Hedda aus Köln , deren Vorkriegshandschrift Liebesgrüße ausschließt , sind meistens aufgerissen. Bei Tante Hedda ist es ihm gleich , er macht jedes Mal Witze über die GeKaPo , reiht sich mit Stolz unter ihre Opfer , aber das hier hat eine andere Dimension: Bei der Vorstellung , daß die schielende , bösartige Frau Meißner und der Cremeschnittenzombie Frau Sötering schon wissen , was Regina für ihn , nur für seine Augen bestimmt hat und daß durch den Mund dieser Fettfotzen vermutlich längst Bruder Walter , wenn nicht sogar Präses Roghmann Kenntnis hat von dem , was er gleich erfahren wird: das abschließende Urteil über seine gesamte Person – bei dieser Vorstellung könnte er um sich schlagen vor Haß , Benno Spranger das Pfadfinderbeil aus der Hand reißen , die Milchglastür mit dem durchsichtigen Schriftzug VERWALTUNG zertrümmern und ein Blutbad anrichten , ein Gemetzel. Er hält den Brief so fest in der Hand , daß das Papier verknickt , preßt ihn an die Brust , will schreien vor Wut und zugleich die Welt umarmen. Das Glück , das ihn durchflutet , ist nicht zu fassen , die Liebe eines Mädchens , aber schon im nächsten Augenblick springt ihn Entsetzen an. Es kann ebensogut sein , daß der Inhalt des
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