Wir in Kahlenbeck: Roman (German Edition)
gegenübersteht , fällt ihr vielleicht wieder auf , wie jung er tatsächlich ist. Obwohl sie einander so nahe sind , weiß er immer noch nicht , was sie fühlt. Zwischenzeitlich fanden sich merkwürdige Sätze in ihren Briefen , daß sie einen alten Freund wiedergetroffen hat , mit dem sie schon einmal , bevor sie nach Kahlenbeck gegangen ist , sehr eng war. Sie konnten nahtlos an diese Vertrautheit anknüpfen in langen Gesprächen über Gott und die Welt , Liebe und Leben . Carl fiel in Verzweiflung , andererseits dachte er , daß ihr doch klar sein mußte , wie er für sie empfindet. Wenn bei diesem alten Bekannten mehr , also Liebe , dahintersteckte , würde sie ihm nicht derart verworrenes und widersprüchliches Zeug schreiben. Er hat nicht gewagt , nachzufragen. Keinesfalls wollte er eifersüchtig erscheinen. Unbegründete Eifersucht schreckt Mädchen und Frauen gnadenlos ab , hat Bart gesagt. Abgesehen davon: Welchen Anspruch hätte er geltend machen können. Auch ohne daß er fragte , erklärte sie ihm schließlich , daß sich an ihrer beider Verhältnis durch diese neue alte Freundschaft nichts ändern würde. Carl schwankte , ob er darüber beruhigt oder erst recht in Sorge sein sollte: Es konnte bedeuten , daß er den Platz des Herzensfreundes innehatte , während der andere ihr Geliebter sein durfte. Seit zwei Wochen ist jetzt nicht mehr die Rede von ihm. Kurz darauf hatte sie die Idee , sich von Andrea nach Forch mitnehmen zu lassen.
Die Uhr schlägt halb drei.
Er hat nichts , um sie zu begrüßen. Normalerweise bringen Männer Frauen etwas mit. Vielleicht hätte er Blumen kaufen sollen , wenigstens eine Rose. Er hat darüber nachgedacht , den Gedanken dann aber verworfen. Es wäre ihm abgeschmackt vorgekommen. Wahrscheinlich hätte sie sich über die Geste gefreut , obwohl sie neulich gesagt hat , daß Blumensträuße sie traurig machen , weil sie nach blühendem Leben aussehen , doch in Wahrheit ganz tot sind.
Auf der Brücke stockt der Verkehr. Andrea fährt einen klapprigen roten Polo , und ein roter Polo steht dort hinter einem grauen Mercedes. Es kann auch ein kleinerer Ford oder ein Opel sein. Die Beifahrertür müßte sich jeden Moment öffnen. Öffnet sich nicht. Vielleicht tauschen sie noch zwei Sätze , verabreden den genauen Zeitpunkt für die Rückfahrt und was sie tun , wenn eine von beiden sich verspätet. Auf die Entfernung kann er nicht erkennen , ob neben dem Fahrer überhaupt jemand sitzt. Kostbare Zeit verrinnt. Jetzt , wo es halb drei geschlagen hat , scheint ihm jede Minute , die vergeht , ohne daß sie gekommen ist , als würde ihm etwas gestohlen. Ein alter Mann mit Dackel überquert die Brücke. Die Wagenkolonne setzt sich in Bewegung: Diesel-Fahrer , die jenseits der Grenze billig tanken , holländische Lkw. Andrea kann hier gar nicht einfach so anhalten und jemanden aussteigen lassen , wenn die Ampel grün ist.
Carl tritt an das Becken , um besser sehen zu können , geht einige Meter zur Seite , sucht Deckung hinter einem Wacholderbusch: weiße , blaue , schwarze Autos – kein kleines rotes.
»Hallo.«
Es ist ihre Stimme. Und sie sagt dieses furchtbare Wort. Aber es hat einen anderen Klang und neue Bedeutung. Er fährt herum , sie steht unmittelbar vor ihm. Er weiß nicht , wie es geschehen konnte , daß er sie nicht hat kommen sehen , jetzt fehlen ihm die dreißig oder fünfundvierzig Sekunden , die sie von der Brücke bis zu ihm gegangen wäre. In dieser Spanne hätte er den Schock , daß sie tatsächlich da ist , unter Kontrolle gebracht und sich den ersten Satz zurechtgelegt. Statt dessen spürt er , daß sein Gesicht einen verunglückten Ausdruck hat , daß er viel zu lange braucht , ihn zu korrigieren.
»Wie geht’s?« sagt sie , wo er noch nicht einmal ihre Begrüßung erwidert hat , streckt ihm die Hand entgegen.
Was soll er mit ihrer Hand , sie haben sich früher doch schon umarmt , zumindest wie Freunde , auch darüber hinaus. Er hat es so deutlich in Erinnerung , daß es geschehen sein muß , doch es war an Tagen , in Nächten , an Orten , wo sie nie gewesen sind. Beim Abschied auf dem Parkplatz in Kahlenbeck , als ihre und seine Eltern wartend hinter ihnen standen , Rasche lauerte , der Präses und Präfekt Lohfing zwischen den Leuten umhergingen , haben sie sich mit einem Händedruck verabschiedet. Wo soll eine andere Geste herkommen , sie hatten ja gar keine Zeit , sich etwas zu überlegen. Er muß sie ergreifen , ihre Hand , sofort , ehe sie wieder in
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