Wir Middle-Ager -Unsere besten Jahre
kümmerliches, rohes und kurz dauerndes Leben.
Thomas Hobbes, Leviathan
Eine Beschäftigung mit dem anthropologischen Hintergrund des mittleren Alters ist höchst faszinierend. Man erfährt, wo Middle-Ager lebten, mit wem sie lebten, wovon sie lebten und was sie plagte beziehungsweise umbrachte. Wenn wir verstehen wollen, was das mittlere Alter heute ist, kommen wir nicht umhin, uns anzusehen, was für eine Rolle es über die Evolutionsgeschichte hinweg spielte und wie viele unserer Vorfahren tatsächlich alt genug wurden, um als Middle-Ager durchzugehen. Es gibt allerdings noch einen anderen wichtigen Grund dafür, dass wir uns der Geschichte des Middle-Age widmen müssen, und dieser Grund ergibt sich aus der Prämisse, ja aus dem Kern des vorliegenden Buches.
Immer wieder betone ich, dass das mittlere Alter ein besonderer und vollkommen neuartiger Abschnitt ist, der sich im menschlichen Lebensplan herausgebildet hat, weil er für das Individuum Vorteile bringt. Damit das mittlere Alter sich »aus gutem Grund« herausbilden konnte, mussten die Menschen im Verlauf der Evolution natürlich erst einmal »mittel-alt« werden. Wären prähistorische Menschen bereits mit fünfunddreißig gestorben, hätte sich die natürliche Selektion nicht auf die Entwicklung des mittleren Alters auswirken können; genausowenig hätte das mittlere Alter dann irgendwelche positiven Eigenschaften aufweisen können. Im Gegenteil, in diesem Fall wären die Besonderheiten des mittleren Alters, wie wir sie bei heute lebenden Menschen feststellen, dann nichts weiter als eigenartige, fast schon anormale Symptome des Umstandes, dass wir länger leben können als je zuvor – oder auch als je »vorgesehen«.
Wie lange haben wir also in der Vergangenheit gelebt?
Die Entwicklung der Lebensdauer ist über das vergangene Jahrhundert recht gut dokumentiert. In diesem kurzen Zeitraum ist in den entwickelten Ländern die Lebenserwartung dramatisch angestiegen, und zwar so weit, dass mindestens 80% der Menschen, die heute zur Welt kommen, fünfundsechzig Jahre alt werden. Frühere Todesursachen – Durchfall, Lungenentzündung, Septikämie, Wundbrand, Komplikationen bei der Geburt – gibt es so gut wie nicht mehr, stattdessen sterben wir an anderen Krankheiten, wenn wir älter sind. Dies stellt einen so umfangreichen wie raschen Wandel dar, der auf Verbesserungen bei Ernährung, Lebensbedingungen und medizinischer Versorgung beruht, und wir können davon ausgehen, dass es etwas Derartiges in der Geschichte der Menschheit nie zuvor gegeben hat.
Wenn wir uns durch die letzten paar Jahrhunderte zurückbewegen könnten, müsste die Lebenserwartung Schritt für Schrittbis zu einer Zahl sinken, die im (historischen) Mittelalter irgendwo unter dreißig liegt. Und in den paar Jahrtausenden davor dürfte das höchstwahrscheinlich nicht viel anders gewesen sein. Man sollte sich jedoch klarmachen, dass selbst in den düsteren Tagen einer niedrigen Lebenserwartung der Alltag der Menschen nicht ganz so trostlos war wie es den Anschein hat – zumindest als Erwachsener. Die durchschnittliche Lebenserwartung taugt wenig, um die tatsächliche Lebensdauer zu bemessen, denn sie berücksichtigt auch die Kindersterblichkeit – und die war bis vor etwa hundert Jahren extrem hoch. Nimmt man alle Menschen, die die Geburt überleben, als Grundlage einer Berechnung der durchschnittlichen Lebensdauer, führt das zwangsläufig zu falschen Ergebnissen, wenn viele Kinder sterben, bevor sie fünf sind. Wenn also viele Kinder vor Erreichen der Reife sterben, müssen die überlebenden Erwachsenen gleich mehrere Jahrzehnte durchhalten, um den Durchschnitt auch nur auf eine so bescheidene Zahl wie dreißig anzuheben. Die verfälschte Darstellung einer vermeintlich niedrigen Lebenserwartung erklärt vielleicht auch, warum über die ganze Geschichtsschreibung hinweg immer wieder von Menschen berichtet wird, die »mittel-alt« und sogar noch viel älter wurden – und zwar keineswegs nur aus den reichen und privilegierten Schichten. Anstatt uns also mit dem Bevölkerungsdurchschnitt aufzuhalten, sollten wir eher betrachten, wie viele Menschen nach Erreichen des Erwachsenenalters dann tatsächlich die vierzig überschritten und so zu Middle-Agern wurden.
Wirft man einen Blick auf die letzten 10 000 Jahre, erkennt man allerdings nicht viel Bewegung. In diesem Zeitraum war die Erde von zwei Gruppen bevölkert: den Landbewohnern, die mittels einer überschaubaren Anzahl von
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