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Wir neuen Großvaeter

Wir neuen Großvaeter

Titel: Wir neuen Großvaeter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rainer Holbe
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bedacht worden. Daher war sie nicht so ohne Weiteres bereit, ihren Freundinnen zu glauben.
    Ihr Vater – ein Arzt in Diensten der New Yorker Polizei – wusste auch keine Antwort, doch er riet ihr, an die Zeitung SUN zu schreiben. Die Ratgeber-Ecke der Wochenzeitung war bei den Lesern beliebt. Wenn sie eine historische Jahreszahl wissen wollten oder nach den Geheimnissen der Inkas forschten, stets baten sie ihre Zeitung um Antworten. Die SUN war eine Institution, die sich der Wahrheit verpflichtet fühlte. Und was in der SUN stand, stimmte!
    Virginias Brief wurde von der Chefredaktion an den Kolumnisten Francis Pharcellus Church weitergeleitet, ein erfahrener Journalist, der bereits als Korrespondent für die New York Times vom amerikanischen Bürgerkrieg (1860 – 1865) berichtet hatte. In der Redaktion galt der Absolvent der Columbia-Universität als Spezialist für schwierige Aufgaben. Die Zeitung hatte für die Weihnachtsmann-Geschichte einen Platz auf der Titelseite reserviert. Und so haute Church unter enormem Zeitdruck in die Tasten seiner Schreibmaschine.
    Â 
    Der Brief an Virginia erschien am 21. September 1897 und verhalf sowohl seinem Verfasser wie auch der kleinen Adressatin zu ungeahnter Popularität. Zudem löste er eine Flut von Leserbriefen aus, sodass die Redakteure der SUN sich entschlossen, den Text in jedem Jahr zur Weihnachtszeit abzudrucken. Das Plädoyer für die Existenz des Weihnachtsmannes wurde in mehr als zwanzig Sprachen übersetzt, vertont und als Fernsehfassung mit einer Auszeichnung bedacht. Nach Einstellung der SUN im Jahre 1950 übernahmen viele internationale Zeitungen die frohe Botschaft, in Deutschland Die Welt (Ursprungstext vom 22.12.1997, siehe Seite 143 f.).
    Warum bewegt die Frage eines Kindes nach dem Weihnachtsmann die Herzen der Menschen seit mehr als hundert Jahren? Hätte Church die Existenz des Weihnachtsmannes bestritten,
hätte er die Fantasiewelt vieler Kinder zerstört und sich an den Werten und Traditionen vergangen, die viele Menschen für wichtig halten. Church erhielt die Hoffnung eines Kindes aufrecht, indem er ihm Ideale bestätigte, die auch für Erwachsene einen Wert haben. Er bot Virginia und allen seinen Lesern einen Grund an, einfach zu glauben.
    In diesem Sinne erkläre ich den Kollegen Church posthum zum Ehrengroßvater, weil er ein Kind ernstgenommen und nicht als besserwissender Erwachsener liebgewonnene Bilder zerstört hat.
    Nachdem ich inzwischen meinem Enkel Leo den Brief an Virginia vorgelesen habe, ist er bereit, im Sinne des Verfassers wieder an den Weihnachtsmann zu glauben. Tatsächlich hat Church mit seinen Überlegungen eine pädagogische Glanzleistung vollbracht, die damals auch von der renommierten New York Times gewürdigt wurde: »Dieses Kind klopft an die Tür zur Erwachsenenwelt und bittet darum, eintreten zu dürfen. Und was dieser Redakteur tut, ist, sie – und seine erwachsenen Leser – zu beschützen.« Francis P. Church ist gelungen, wovon alle Journalisten träumen: durch seine Arbeit berühmt zu werden. Er blieb bis zu seiner Pensionierung in den Diensten der SUN und starb im April 1906.
    Â 
    Virginia O’Hanlon, ein zartes, außerordentlich intelligentes Kind, besuchte mit Erfolg das Hunter-College und die Columbia Universität, wo sie mit 23 Jahren ihren Magister machte. Danach wurde sie Lehrerin an einer New Yorker Schule und später deren Leiterin. Nach 47 Jahren im Dienste der Kinder wurde sie 1959 pensioniert. Zeit ihres Lebens erhielt sie unzählige Briefe aus aller Welt, die sich mit ihrer Weihnachtsmann-Geschichte
befassten. Virginia fügte jeder Antwort eine Kopie der SUN -Titelseite mit dem Brief von Francis P. Church bei. Virginia O’Hanlon, der ihre Freundinnen und Freunde stets ein heiteres, mitfühlendes Herz bescheinigten, starb im Alter von 81 Jahren in einem Seniorenstift in der Nähe von New York.
    Es gibt den Weihnachtsmann
    Liebe Virginia,
    Deine kleinen Freunde haben nicht recht. Sie sind angekränkelt vom Skeptizismus eines skeptischen Zeitalters. Sie glauben nur, was sie sehen: Sie glauben, dass es nicht geben kann, was sie mit ihrem kleinen Geist nicht erfassen können. Aller Menschengeist ist klein, Virginia, ob er nun einem Erwachsenen oder einem Kind gehört. Im Weltall verliert er sich wie ein winziges Insekt. Solcher Ameisenverstand reicht nicht aus, die ganze Wahrheit zu erfassen und zu

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