Wir sehn uns wieder in der Ewigkeit
Papier auf den Knien auf der Pritsche lag. Er macht so überaus elegante Bewegungen dabei, die Heinrich mehr bewundert, als er jemals die Anmut eines Mädchens bewundert hat; seine langen, schmalen, wenn auch von vielen schweren Arbeiten im Gefängnis geprägten Hände haben hübsche, feingliedrige Finger, die Émile manchmal durchbiegt, als wäre er ein Pianist. Heinrich sieht sich in Émiles Augen und umgekehrt; eine tiefe Liebe zwischen beiden entsteht; du malst mich, wie ich in meinem Herzen bin, und ich erhöre deine wahre Geschichte, so geht das selten zwischen zwei Leuten. Émile summt Lieder, die Heinrich nicht wirklich versteht, doch deren wiegende Rhythmen sich in ihm fortsetzen, für eine Erzählung, die er niemals wird schreiben können, weil sie zu sanft sind für all die Dinge, von denen er zu berichten weiß, grausame, aufreibende Dinge, die alle Sätze zu pulsierenden Katarakten machen, zu stürmischen Schnellen, wie die Wasser aus dem schmelzenden Gebirge, die Ende März beginnen, die Cluse hinabzustürzen, die tosen und lärmen, dass sie es hundert Meter darüber, trotz des scharfen, lauten Windes, auf den Wällen des Forts hören können, ja bis in die Zellen hinein dringt dieses Stürzen und Tosen und Springen des Wassers. Heinrich hört Lieder, deren Melodien ihn treffen, die er nachzusingen beginnt und die ihn verfolgen bis in seine schweren Träume hinein, in denen der fette Plantagenbesitzer einen bösen Sklaven ausschickt, die schöneSchwester seines Freundes Émile einzufangen, die in ihrer Verzweiflung beginnt, die ältesten Lieder zu singen, die sie kennt, um sich in ihrer Angst zu trösten. Ach, dass das Schöne und das Schreckliche sich immer durchwirken! Und die Schwester verwandelt sich in ein anderes Mädchen, und die Frage erhebt sich: Wenn sie eine schwarze Mutter hat und einen weißen Vater, gegen wen soll sie dann kämpfen? Vater oder Mutter? Schwarz oder weiß? Dann verläuft doch der Kampf mitten durch sie hindurch! Bauschende Röcke sieht Heinrich, und Männer in Rage, und heimliche Liebkosungen und Zärtlichkeiten, die Unheil bringen und Verderben, und die Kulisse seines Traumes ist ein sonderbares Land, zusammengesetzt aus den rauen Bergen des Jura und Pflanzungen in karibischen Nächten, die er in seinem Leben niemals sehen wird. Und es wächst in ihm eine Geschichte, eine Geschichte von Liebe, Missverständnis und Verrat, in Zeiten der Revolution,
er beendet sie erst wenige Monate vor seinem Tod,
und es wächst in ihm die Überzeugung:
libres vivre ou mourir!
Émile friert. Er hat sich an das Frieren schon so gewöhnt, dass er es nicht merkt, als ihm die Zehen absterben. Sie sind blau und schwarz. Er zeigt sie eines Tages Heinrich, genauso wie er ihm die Narben auf seinem Rücken zeigt, die Narben der Schläge, die er erhalten hat, auf Haiti, in seiner Heimat, und im Fort de Joux, seinem neuen Zuhause, von den Striemen der Peitschen, und er zeigt ihm die Flecken, die niemals verschwinden werden, von den Gewehrkolben, die man ihm in die Beine stieß und indie Hüfte, als man ihn drangsalierte, damit er die Böden schrubbte, Gräben aushub, schwere Karren herumschob, als die Wächter dabei zusahen und ihre Launen ausließen an ihm.
Und er zeigt die Stelle an seinem Knöchel, an dem die Eisenkette mit der Kugel hing: die Kette ist fort! Er kann es nicht glauben, man hat sie entfernt, denn Henri de Kleist,
monsieur le poète
, hat dem Kommandanten erklärt, der schwarze Gefangene sei ohne die Kugel von größerer Beweglichkeit, und von besserem Nutzen für alle.
Émile bittet Heinrich um Rum, um ein kleines bisschen Rum. Der deutsche Gefangene darf sich Dinge kaufen, für die er selbst kein Geld hat; er hat gar nichts; die Gefangenen bekommen auch keinen Rum.
La fée verte
möchte er lieber nicht, den Absinth, die Fee hat ihm einmal so fürchterliche Halluzinationen gebracht – der Wermut darin, sagt er,
non, je ne veux pas
. Er lässt Rum auf ein Stück Zucker tröpfeln oder trinkt ihn in schwarzem Kaffee, wenn er ihn bekommt, mit so viel Zucker, wie er kriegen kann, obwohl doch –
Der Rum kommt aus den karibischen Kolonien, sagt Émile.
Ich weiß, antwortet Heinrich.
Toussaint l’Ouverture hat ständig nach Zucker verlangt, sagt Émile auch, sie nannten ihn
nègre doux
, den süßen Neger. Sie sagten, gib dem Affen Zucker, er hat Heimweh.
Doux
wie der
Doubs
, sagt Heinrich, unberechenbar, mit geheimnisvollen Läufen.
Doux
und
Doubs
sprechen sich wie im
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