Wir sehn uns wieder in der Ewigkeit
küsst sie auf die Stirn, Henriette weint. Das ist nicht lebbar, ich weiß es; komm und sage mir, dass es anders ist. Sie weint noch mehr, Heinrich muss sie trösten, lass doch, murmelt er, lass das doch sein, und sie halten sich fester und fester.
Das ist nicht lebbar, es passt in kein Gewand, in keine Wohnung, in keine Stadt. Immer stärker wird dieses Gefühl, und immer weiter enthebt es sie dem Leben. Es ist nicht lebbar, das ist wahr, doch wer dies einmal erfahren hat,
wenn du das ein einziges Mal nur gefühlt hast, kannst du sterben, willst du sterben, nichts anderes soll mehr sein –
Heinrich, glaubst du, ich komme als Engel, um Pauline beizustehen?
Heinrich steigt Röte ins Gesicht, er sieht beiseite. Er will Henriette die Hoffnung nicht nehmen; doch lügen kann er auch nicht.
Lass nur, sagt Henriette, dein Schweigen dauert einen Augenblick zu lang.
Sie betrachtet ihre Füße, sie fängt an, mit dem Oberkörper zu schaukeln. Plötzlich springt sie auf, läuft zum Fenster, reißt es auf. Sieht auf den See, sieht in den Himmel.
Willst du zurück?, fragt er, kaum hörbar.
Heinrich betrachtet ihre Gestalt von hinten. Ihren Nacken unter dem hochgesteckten Haar. Ihre schmalen Schultern. Sie schüttelt langsam den Kopf.
Kann ein Mensch im anderen etwas hören, was ihm selbst nicht bewusst ist?
Lass mich das Bild noch einmal sehen. Mein Porträt, gemalt von Émile Liberté,
Inbegriff der Sehnsucht nach Freiheit, Inbegriff der Auflehnung gegen Napoleon, Inbegriff meines Mitgefühls für die Unterdrückten, Inbegriff meiner Liebe für einen Gequälten; meine Muse, meine Inspiration, meine Neugier, mein Sinn für alles, was weit hinausreicht über den Tellerrand Europas, das die Revolution im Keim erstickt hat, doch ihre Ideen hinausgeschickt hat in die weite Welt. Émile Liberté, werde ich dich wiedersehen, dort, wohin ich jetzt geh?
Hinter geschlossenen Lidern sehe ich es: Die Augen sind leuchtend blau gemalt, fast ein bisschen türkis. Die Brauen rund gewölbt, die Ohren hübsch, nicht sehr groß. Die Locken sind in Fransen in die Stirn gelegt, das Gesicht ist rund. Der Grund ist hellbraun, vor dem ich sitze, die Jacke schwarz und einfach, die weiße Halsbinde kraus. Mein Blick ist freundlich, doch um den Mund herumspielt eine kleine Bitternis, eine leichte Unsicherheit. So habe ich mich selbst oft gesehen, offen, wie ein Kind.
Jetzt bleibt es, frei zu sterben.
Im Gefängnis habe ich mich frei gefühlt. Zu denken und zu schreiben und mich um nichts zu kümmern. Es war noch so vieles offen, es war mit die beste Zeit meines Lebens. Niemand hat von mir verlangt, dumme Exerzitien oder blöde Rechenaufgaben auszuführen. Die Freiheit. Ich habe sie erlebt. Und jetzt fühle ich sie wieder. Seit wir den Tag zu sterben festgelegt. Und jetzt, in dieser Nacht, ganz stark –
Die Zeit dehnt sich, in dieser sonderbaren Nacht. Die Zeit weitet sich, in dieser letzten Nacht. Es ist sehr still im Haus.
Sie versinken noch einmal tief in ihrem Leben, das nun zu Ende geht, in all den vergangenen Geschichten. Ein Paar Kerzen ist heruntergebrannt, es flackern zwei kurze Stummel, unruhiges Licht, verwirrende Schatten.
Heinrich und Henriette.
Dein Leben, mein Leben, tick tack.
Ereignisse, Landschaften, Menschen, die sie vorüberziehen lassen, die sie noch einmal ganz nah an sich heranziehen, wie einen Freund, den man umarmt, bevor man geht.
Manche sagen, der Hang zum Tod lebe tief in den Familien. Die Wehmut der Mütter stecke die Kinder an, die Traurigkeit der Väter desgleichen.
Andere sagen, in Zeiten politischer Verwirrung häuftensich die Fälle, in denen Menschen den Tod dem Leben vorziehen.
Und viele, die diesen Weg gehen, sagen: du stellst die Frage falsch. Frag nicht nach dem Grund zu sterben, wenn es keinen Grund mehr zum Leben gibt.
Die Tür haben sie einen Spalt geöffnet gelassen.
Heinrich sitzt in seinem Zimmer am Tisch und hält verkrampft die Feder. Er will nicht, er kann nicht schreiben. Er hat überhaupt keine Lust mehr. Er will nur noch eine Flasche Wein öffnen und trinken und an gar nichts mehr denken. Henriette macht ihn ganz verrückt, sie ist so energisch und praktisch. Vor allem, wenn sie so hausfraulich wird, so, wie gerade eben. Als sie sich nicht entscheiden können, wo sie die Briefe schreiben, in ihrem Zimmer oder in seinem. Etwas in seinem missfällt ihr. Vielleicht ist es ja ein Geruch. Also rüber zu ihr. Sie fängt an, Stühle zu rücken, du setzt dich
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