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Wir sind alle Islaender

Titel: Wir sind alle Islaender Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Halldór Gudmundsson
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plötzlich vor Tausenden von Menschen, die wütend sind. Zwei Tage und Nächte waren wir mit mehreren tausend zornigen Menschen konfrontiert. Das war wirklich hart. Man ist immer auf das Schlimmste vorbereitet, und der Adrenalinspiegel ist am Anschlag.«
    In den zwei schlimmsten Krawallnächten wurde die Polizei mit allerhand Müll und sogar mit Steinen beworfen, und Marino wurde von einem großen Stein getroffen.
    »Ja, der flog plötzlich auf mich zu in der Nacht, in der wir zu Tränengas griffen. Das taten wir erst, als wir uns in einer für uns lebensgefährlichen Situation wähnten. In dieser Nacht (21./22. Januar) hatte sich der Charakter der Demonstrationen tiefgreifend verändert. Da waren viele Betrunkene und Leute, die wir aus dem Rauschgiftmilieu kennen, dabei. Gewaltbereite, die sich unter die Leute mischten. Es fällt mir
schwer, die richtigen Worte dafür zu finden. Vielleicht ist es wie in einem Vakuum, das die Leute aufsaugt; plötzlich nehmen sie wie ferngesteuert an ihnen eigentlich fremden Aktionen teil, fangen an, mit Steinen zu werfen und was weiß ich. Viele haben sich sogar hinterher bei uns entschuldigt, konnten gar nicht mehr verstehen, wieso sie überhaupt mitgemacht hatten.«
    »In dieser Nacht bekamen wir den Befehl, Tränengas einzusetzen. Wir befanden uns tatsächlich in Lebensgefahr. Man bewarf uns unaufhörlich mit Steinen, Flaschen, Tüten mit Pisse und ähnlichem Zeug, und in der Menge konnten wir Messer und Schlagstöcke sehen – die Situation war wirklich extrem. An Verhaftungen haben wir nicht gedacht; wir versuchten nur, eine feste Reihe zu bilden, und setzten die Gasmasken auf, und da wurde manchen Demonstranten klar, was gleich passieren würde, und sie haben sich aus dem Staub gemacht. Tränengas ist außerordentlich unangenehm, eigentlich das Schlimmste, was ich im Training durchgemacht habe, viel schlimmer noch als Pfefferspray. Wer Tränengas in die Augen bekommt, wird wahrscheinlich nicht zu Gewalt greifen, er wirft sich eher heulend auf den Boden. Erst haben wir die Leute gewarnt, aber das hat nichts genutzt, wir wurden trotzdem weiter mit Steinen und Abfall beworfen. Wie gesagt, vereinzelt in der Menge sahen wir ja Leute stehen, die wir kannten, zum Beispiel Menschen, die eigentlich in Institutionen gehören, weil sie ernsthaft an Geisteskrankheiten leiden. Es war schwer zu verstehen, warum die überhaupt hier waren, aber hier konnten sie sich eben richtig gehen lassen. Die haben uns wie im Rausch beworfen. Wir wussten ja, dass einige von ihnen schwer krank sind, aber leider konnten wir sie nicht aus der Menge herausholen.«

    »Dann haben wir Tränengas geworfen, und zum ersten Mal seit achtundvierzig Stunden kehrte für einige Minuten Ruhe ein… der ganze Krach hörte auf… für einen Augenblick herrschte Frieden. Man spürte, wie der Druck nachließ, und hoffte, jetzt sei es überstanden. Dann bekamen wir den Befehl, uns an anderer Stelle zusammenzuziehen, und da strömten dann viele Leute hin, nur um uns mit Steinen zu bewerfen, und da ist es dann passiert, dass ich den Stein abbekommen habe: einen ziemlich großen Pflasterstein, dreieinhalb Kilo schwer.«
    »Ich habe ihn nicht kommen sehen, sondern nach rechts geschaut, Richtung Austurvöllur, als mich der Stein von links in den Nacken traf – das heißt, den Helm, denn der Helm hat mich gerettet. Ich war zuerst ein bisschen desorientiert, aber man ist in so einer Situation ja dermaßen vollgepumpt mit Adrenalin, dass man zunächst gar nicht richtig begreift, was passiert ist. Ich wollte also einfach weitermachen. Aber dann ist einer meiner Vorgesetzten gekommen und hat gefragt, ob mit mir alles in Ordnung sei. Und ich sage, vollkommen absurd, mir geht es gut, aber er sieht mir ja an, dass das nicht stimmt. Er hat mich dann rein ins Parlamentsgebäude gebracht, wo sich einer unserer Sanitäter um mich gekümmert hat. Ich hätte gewirkt, als sei ich sturzbetrunken, hat er später gesagt.«
    »Im Gebäude selber befanden sich Feuerwehrleute, sowohl um der Polizei zu helfen als auch wegen der Brandgefahr, denn die Demonstranten hatten ja draußen Lagerfeuer angezündet. Wir haben gute Verbindungen zur Feuerwehr, arbeiten viel mit denen zusammen, ich kenne diese Jungs alle. Es war ein bisschen schwer für mich, ihre Hilfe in Anspruch zu nehmen, aber
glücklicherweise hatte ich da schon nichts mehr zu sagen, ich war mehr oder weniger ohnmächtig. Ich weiß noch, dass der Sanitäter mit mir im Krankenwagen war, den

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