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Wir sind alle Islaender

Titel: Wir sind alle Islaender Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Halldór Gudmundsson
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hatte es selber an der Schulter erwischt; er hatte keine Schutzkleidung angehabt und blutete. Es war wie im Krieg, die Sanitäter mussten Gasmasken aufsetzen, um mich in den Krankenwagen zu bugsieren.«
    »In der Notaufnahme im Krankenhaus kannten mich dann alle, da muss die Polizei ja oft aushelfen und eingreifen, wenn es zu gewalttätigen Übergriffen oder ähnlichen Problemen kommt. Meine Frau hat früher auch mal dort gearbeitet, also wussten alle, wer ich bin. Es ist einem schrecklich peinlich, so hilflos zu sein und den Beistand dieser Leute in Anspruch nehmen zu müssen – man kennt sie ja und hat bei anderer Gelegenheit auf sie aufgepasst. Irgendwie fühlt es sich so an, als hätte man in seinem Job versagt, das ist schwer zu erklären. Jetzt lag ich also da mit Halskrause und fiel immer wieder in Ohnmacht. Manchmal kam es mir so vor, als seien mir die Demonstranten gefolgt und brüllten weiter draußen vor der Tür, und ich dachte, jetzt werfen sie gleich hier in der Notaufnahme die Fensterscheiben ein, aber als ich sah, wie ruhig alle ihrer Arbeit nachgingen, wusste ich, dass ich mir das Ganze nur einbildete. Aber es ging mir nicht gut, wie ich da so hilflos auf der Liege lag; ich weiß noch, dass draußen auf dem Gang dauernd ein Betrunkener auf und ab ging, und ich mich bedroht fühlte, denn ich hatte ja schon oft Betrunkene verhaften müssen, aber das war alles mehr oder weniger Einbildung.«
    »Am Ende kam ich sehr glimpflich mit einer Gehirnerschütterung davon. Sehr glimpflich, sagen die Ärzte. Ich habe hinterher
eine Behandlung für Hals und Rücken gemacht, das tat gut, und sei es nur, um ein bisschen entspannen zu können. Wir wissen nicht, wer den Stein geworfen hat, wir versuchen uns Fotos aus dieser Nacht zu besorgen, es gibt ja da am Parlament Überwachungskameras, das gehen wir jetzt alles durch. Ansonsten ist uns hier im Hause ganz egal, wer gegen was demonstriert, so lange es friedlich zugeht.«
    Ist Marino wütend auf den Steinewerfer?
    »Tja, ich weiß nicht, ob ich wütend bin oder einfach nur erstaunt. Überrascht darüber, dass sich Leute so was einfallen lassen, denn die Steinwürfe waren ja ausschließlich dazu gut, uns zu verletzen. Erst warfen sie die Steine immer auf unsere Schilde, aber dann sahen sie, dass uns das nichts ausmachte, und dann fingen sie an, auf die Beine zu zielen oder die Steine hoch in die Luft über uns zu werfen, damit sie uns auf den Kopf treffen. Ich war schon am frühen Abend mehrere Male von Steinen an den Beinen und am Helm getroffen worden. Vier Steine hat der Helm, glaube ich, abbekommen, und auch ein Bierglas hat man auf ihm zerbrochen. Als wir da in einer Reihe vor dem Parlament standen, wurden die Männer neben mir mit einer Flüssigkeit beworfen, und wir fürchteten zunächst, das ist was Brennbares, aber als wir daran rochen, war es glücklicherweise, wenn ich so sagen darf, nur Urin. Benzin oder Säure macht uns in so einer Situation viel mehr Sorgen.«
    »Bei diesen Protesten eingesetzt zu werden ist eine schwierige Aufgabe. Wir müssen Befehle befolgen und manchmal mit Schlagstöcken oder Pfefferspray oder Tränengas den Platz räumen, und zwar nur, weil vielleicht zwei oder drei Unruhestifter allen anderen die Demonstration vermiesen. Wir leben hier in
Island natürlich in einer überschaubaren Gemeinschaft. Während der Unruhen habe ich oft Leute gesehen, die ich kannte, aber solange alles friedlich ist, geht mich das nichts an.«
    Wie hat Marino selber auf die gesellschaftlichen Zustände reagiert? Hätte er nicht manchmal selber gerne gegen die politische Entwicklung protestieren wollen?
    »Natürlich gab es da vieles, womit ich nicht einverstanden war. Andererseits habe ich ja an diesem Riesenaufschwung nicht teilgenommen. Ich habe noch keinen Flachbildschirm, besitze nur ein altes Auto, und wir wohnen zur Miete, weil meine Frau an der Uni studiert und wir auch ein Kind haben, das wir nicht mit irgendwelchen Luxuswaren verwöhnen wollen. Ich war also kein Nutznießer dieser glorreichen Wohlstandsjahre, und deswegen hat es mich auch nicht besonders hart getroffen. Ich merke natürlich die Inflation, und ich verspüre wenig Lust, die Schulden irgendwelcher Bankwikinger zu zahlen. Was ich wollte, waren Neuwahlen. Als die für Ende April angesagt wurden, hat das meine Unzufriedenheit gedämpft. Ich fand aber nicht, dass für diese achtzig Tage ein Regierungswechsel nötig wäre. Das war für mich ein Schritt rückwärts, als wir endlich einen

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