Wir sind doch Schwestern
Es war nicht mehr zu vermeiden, sie wusste es, Gertrud wusste es und alle anderen wohl auch: Eine Frau musste den Hof verlassen. Nur Heinrich wollte das anscheinend nicht wahrhaben.
»Anna Maria«, setzte er noch einmal an, »du wusstest von Anfang an, welche Stellung Katty hier einnimmt. Ich habe meinem verstorbenen Sohn versprochen, dass sie auf dem Hof bleiben kann, solange sie will.«
Als Anna Maria erkannte, dass sie verloren hatte, schluchzte sie laut auf. Katty bekam Mitleid. Diese Frau war zutiefst verletzt, vielleicht durch das, was Katty und Heinrich getan hatten, möglicherweise auch nur deshalb, weil sich fortsetzte, was sie zuvor im Hause ihres Bruder hatte spüren müssen: Sie war nur geduldet, nicht geliebt.
Katty versuchte, Anna Maria in den Arm zu nehmen, aber die missdeutete den ehrlich gemeinten Versöhnungsversuch und schien sich bedroht zu fühlen. Sie stieß Katty mit aller Kraft von sich. Katty strauchelte und fiel rückwärts auf das Bett, wo sie unsanft auf Heinrich landete.
»Ja, legt euch nur zusammen, jetzt müsst ihr es nicht mehr heimlich tun«, giftete Anna Maria und rannte hinaus.
Katty blickte Heinrich an. Der sagte nichts, er atmete einfach nur sehr laut aus und sank in sich zusammen.
Der 100. Geburtstag – Sonntag
Schwesternliebe
Gertrud hatte sich wieder ins Bett gelegt. Jetzt war an Schlaf erst recht nicht mehr zu denken. Sie war aufgewühlt von dem Streit in der Küche. War sie zu streng mit Katty, konnte die ihr wirklich nichts recht machen? Gertrud schüttelte den Kopf. Es gab vieles, wofür sie Katty bewunderte, ob das ihr einnehmendes Wesen oder ihr Organisationstalent waren. Ihre Schwester legte nur manchmal eine fatale Neigung an den Tag, sich alles schönzureden. Es war inzwischen zwei Uhr durch und Gertrud nahm ihr Büchlein vom Nachttisch und blätterte darin. Nach »Löffelchen verschluckt« hatte sie nichts mehr eingetragen. Sie versuchte sich zu erinnern, was noch alles vor dem Ersten Weltkrieg geschehen war, aber ihr fiel immer nur die Begegnung mit Franz ein. Sie versuchte sich vorzustellen, wie es wäre, wenn sie ihren hundertsten Geburtstag gemeinsam feiern könnten. Franz wäre inzwischen einhundertfünf. Warum eigentlich nicht?, feixte sie. Ob er noch Haare hätte? Wenn Gertrud sich Franz im hohen Alter vorstellte, landete sie unglücklicherweise immer bei Heinrich. Die Brüder hatten sich als junge Männer sehr ähnlich gesehen. Eigentlich hätte Heinrich eher zu Gertruds Charakter gepasst. Die fröhliche Neugier von Franz hatte sie nie besessen, aber sie hatte damals das Gefühl, er sei eine perfekte Ergänzung zu ihrer zurückhaltenden,ernsten Art. Konnte sie nachvollziehen, dass Katty Heinrich verfallen war, hatte sie sich manchmal gefragt. Er war zweifellos eine charismatische Persönlichkeit gewesen, doch sie hatte nie verstanden, wie es Katty gelungen war, auszublenden, dass Heinrich eiskalt gewesen war, wenn es um seine Ziele ging. Und sie hatte es ihrer Schwester übel genommen. Als die Dreiecksbeziehung völlig eskaliert war, hatte Paula deshalb eines Nachmittags Gertrud beschworen, sie dürfe Katty nicht fallen lassen und gegen ihren Willen vom Hof holen.
»Hättest du auf Kommando aufhören können, Franz zu lieben?«, hatte Paula sie gefragt und ihre eigene Ansicht gleich mitgeliefert: »Man kann verhindern, dass die Karre losrollt, aber wenn sie rollt, dann ist sie nicht mehr zu stoppen.«
»Heißt das, ich muss zusehen, wie die Karre vor die Wand fährt und zerschellt?«, hatte sie zurückgefragt.
»Ja«, hatte Paula nur geantwortet, »und dann sei da und hilf beim Aufräumen. Mehr kannst du jetzt nicht tun. Wenn du dich vor die Karre schmeißt, wirst du überrollt, und davon hat niemand was.«
Gertrud hatte das nicht akzeptieren können. Sie hatte die Gerechtigkeit beschworen und dass Anna Maria unschuldig in den Schlamassel geraten sei, während Katty ihn sich selbst eingebrockt habe, doch Paula hatte ihr vehement widersprochen. Die ganze Familie habe befürwortet, dass Katty zu Heinrich auf den Hof gehe, und damit in Kauf genommen, dass sich ein junges Mädchen in diesen imposanten Mann verliebe. Katty treffe in dieser Hinsicht nun wirklich keine Schuld.
Paula hatte ins Schwarze getroffen. Trotz ihrer Wut auf Heinrich hatte nicht einmal Gertrud dagegen aufbegehrt, dass Katty auf den Tellemannshof ging, denn nach dem Tod ihrer Mutter und nach dem Notverkauf des Hofes war ihr Vater in einem erbärmlichen Zustand gewesen. Und als das
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