Wir sind doch Schwestern
war Gertrud längst pensioniert gewesen. Das Thema Antisemitismus hatte ihre große Schwester immer umgetrieben. Katty erinnerte sich noch gut, dass Gertrud sich selbst, aber auch ihrer Familie Vorwürfe gemacht hatte ob ihres Stillhaltens in der Nazizeit. Wenn Katty und Paula sich verteidigt hatten, war sie fuchsteufelswild geworden. »Du kannst dein schlechtes Gewissen nicht an uns auslassen«, hatte Paula daraufhin einmal gegrantelt. Gertrud hatte offenbar Schuldgefühle wegen dieses Mannes, den sie beinahe geheiratet hätte, hatte Paula ihr nach dem Streit zugeraunt. Wie hieß der noch einmal? Katty kramte in ihrem Gedächtnis, aber der Name wollte ihr nicht einfallen. Sie hatte ihn nur einmal gesehen. Schade eigentlich, er war sympathisch gewesen, bis auf diese »Sache« eben. Gertrud hatte sich von ihm getrennt, weil er der Familie wegen seinerReligion Schwierigkeiten bereitet hätte, so hatte sie ihre Entscheidung zumindest begründet. Das war noch vor der Nazizeit gewesen, entsann sich Katty. Sie schüttelte sich bei dem Gedanken, wohin solche Vorurteile geführt hatten. Doch auch Katty war damals erschrocken gewesen, als sich herausgestellt hatte, dass Gertruds Auserwählter ein Jude war. Sie erinnerte sich voller Scham daran, dass sie vor den Juden Angst gehabt hatte. Für Gertrud war ihr Kleinmut in Bezug auf ihren jüdischen Freund immer ein Makel geblieben. Und sie hatte Katty einmal gestanden, dass sie das Risiko, Wolodomir zu verstecken, wahrscheinlich nicht eingegangen wäre, wenn sie nicht dieses dringende Bedürfnis gehabt hätte, ihren Fehler wiedergutzumachen. Ob sie nach dem Krieg noch einmal etwas von ihm gehört hatte? Karl! Genau, jetzt fiel Katty auch sein Name wieder ein. Was wäre wohl passiert, wenn Gertrud Karl geheiratet hätte? Wären sie dann alle verfolgt worden? Wäre Gertrud mit ihrem Mann geflohen und hätte die Familie sie verleugnen müssen?
Es reicht, schimpfte Katty mit sich, ich will solche Gedanken jetzt nicht haben, übermorgen feiern wir ein schönes Fest, da werde ich doch jetzt nicht trübsinnig werden.
Aber das Thema ließ sie immer noch nicht los. Wenn Gertrud geheiratet hätte, wäre vielleicht heute vieles einfacher, dachte sie manchmal. Vielleicht wäre Gertrud so glücklich und unkompliziert wie Paula. Obwohl die nun auch nicht gerade ein glückliches Händchen bei der Wahl des Ehemanns an den Tag gelegt hatte. Dass Paula mit Alfred noch so lange Kontakt gehabt hatte, hätte sie ihr nicht zugetraut, und sie konnte es nicht billigen. Immerhin hatte dieser Mann ihren Cousin auf dem Gewissen. Das konnte Paula nicht einfach ignorieren. Für Katty kam das einem Verrat an der eigenen Familie gleich, und bei aller Liebe zu ihrer Schwester, darüber würde sie ein ernstes Wort mit ihr reden müssen. Aber dazuwar nun keine Zeit, und außerdem war ihr eine Front im Hause wirklich genug. Wenn sie jetzt noch einen Streit mit Paula anzettelte, wäre Hopfen und Malz verloren. Nun ging es erst einmal darum, Gertruds Erinnerungen im Zaum zu halten.
Katty schlug ärgerlich mit der flachen Hand auf den Ordner, räumte ihn zurück in die Kommode und atmete tief durch. Es würde nicht leicht sein, Gertrud an diesem Tag aufzuheitern, fürchtete sie. Hoffentlich wollte sie nicht zurück in ihre Wohnung nach Xanten. Katty konnte sich vorstellen, wie Gertrud theatralisch intonierte, sie werde im Haus dieses unmoralischen Brudermörders keine weitere Nacht verbringen.
»Warten wir es ab«, seufzte Katty laut, »es nützt ja nicht, wenn ich die Pferde scheu mache.« Sie schnappte sich ihren Sommermantel, suchte den Autoschlüssel und fuhr, wie immer ein bisschen zu schnell, rückwärts über die gekieste Auffahrt. Mit ihren vierundachtzig Jahren fuhr sie selbstverständlich noch Auto und wollte nichts davon hören, dass sie zu alt oder nicht reaktionsschnell genug sein könnte. Einmal hatte ihr angeheirateter Neffe Bernhard gewagt, sie vorsichtig darauf anzusprechen, dass es vielleicht an der Zeit sei, den Führerschein abzugeben. Die jungen Leute sollten erst mal so viel Erfahrung sammeln wie sie, dann könnten sie ihr mit komischen Ermahnungen kommen, hatte sie wütend entgegnet. Und der Anlass für dieses Gespräch war wirklich nichtig gewesen. Sie hatte beim Verlassen des Hofes etwas zu viel Gas gegeben und war dabei rückwärts in den Graben gerutscht. Das konnte doch jedem mal passieren, fand sie. Mein Gott, die sollten sich nicht so aufregen. Bernhard hatte daraus nämlich ein
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