Wir sind Gefangene
Maurus macht eine Konditorei auf neben der Resl ihrem Hutladen, die Nanndl frisiert die Damen und Du hilfst ein bißl mit und kriegst ein nettes Kämmerlein ganz droben auf dem Dachboden, wo Du dichten kannst. Jeder von uns spinnt ja ein bißl, aber wenn's nicht so wäre, wäre es auch nichts. Weißt schon, ich schwärme wieder. Aber das ist so schön. Wenn ich einmal gestorben bin, nachher schaust in alle Winkel, lieber Oskar, vielleicht leg' ich irgendwo einen Haufen Geld hin für Dich. Das wäre fein, gell!
Jetzt hab' ich einen neuen Doktor in Perlach, ein Wunderdoktor. Er hat mir eine Literflasche Medizin verschrieben. Sie hilft schon. Er sagt, ich bin in einem Vierteljahr ganz gesund. Ich glaub's aber nicht. Ich möcht' bloß noch sehen, daß wir alle friedlich in unserm Haus zusammen sind ...« Es kam mir ihr Gesicht in den Sinn, ihre Heiterkeit. Ich lief in Gedanken ihr ganzes Leben ab: Wie sie schön war als Mädchen und kokett, wie sie Ballkönigin war, wie sie einmal, als ich vom Tessin heimkam und mich alle schimpften, zu mir mit ihrer warmen Zärtlichkeit sagte: »Mein Gott, Oskar, setz' dich nur hin und laß dich nicht drausbringen ... Du gehörst genauso ins Haus wie wir alle. Es kann dich keiner 'nausschmeißen ...« Und ich entsann mich an jedes Wort, was sie damals zu mir und Selma gesagt hatte. Fast zwei volle Jahre war sie bettlägerig gewesen, und immer hatte sie gewußt, daß es mit jedem Tag näher dem Grab zuginge. So deutlich wurde mir alles, daß ich auf einmal nicht mehr an ihren Tod glauben wollte und dann etwas wie einen dumpfen Druck empfand, wenn mir dies doch wieder gewiß wurde. Ich hielt es nicht mehr aus zu Hause und ging allein nach Aufkirchen in den Friedhof hinauf. Vor der Glastüre des Leichenhauses blieb ich zögernd stehen. Ich schaute nur auf die über den Sarg gelegten Kränze. Leicht überrieselte es mich.
Es gibt Augenblicke - man will das Geschehene wegdenken, man will nichts sehen davon - plötzlich aber schaut man hin. Ich drückte das Gesicht an die Glasfüllung der Türe und verlor die Herrschaft über mich. Aus dem Kranzgewirr blinkte im weißen, steifen Spitzenkleid der zusammengeschrumpfte Oberkörper. Dann - ich fror jetzt und fing zu weinen an, machte die Tür auf und trat in den kühlen, trostlosen Raum, an die Bahre - ja, dann kam der dürre gelbe Hals, der schmale Kopf mit dem glatten, spärlichen schwarzen Haar. Da lag das starre Gesicht mit der bläulich-bleichen durchsichtigen Haut, ganz Skelett schon, die Augen halb offen und um den dünnen, farblosen Mund zwei kleine Falten wie von einem jäh abgebrochenen leisen Lächeln. Durch das Geriesel meiner Tränen sah ich auf die Tote.
»E-e-emma! E-e-emma-emma!« stotterte ich und besprenkelte unausgesetzt die Leiche mit Weihwasser, immerzu, nur um des Zitterns meiner Glieder nicht innezuwerden. »E-e-emma-emma! Emma-emma, lebst du denn gar nimmer, Emma?!« heulte ich plötzlich ganz einfältig, heulte und heulte. Die Turmuhr schlug jetzt dröhnend nahe. Ich zuckte förmlich erschrocken zusammen, wischte wie beschämt meine Augen aus und rannte aus dem Leichenhaus. Ich schlich wie ein furchtsamer Schulbub, der irgend etwas Schreckliches gemacht hat, aus dem Gottesacker. Ich glaube, ich wäre vor jedem Menschen davongelaufen. Auf dem Feldweg, der von hier nach Kempfenhausen führt, ging ich endlich langsamer und wurde ruhiger. Ich strebte auf das spärliche Gehölz zu, das sich hier auf dem Hügelkamm dahinzieht. Da hatten wir als Buben mit den Schülern der Nachbardörfer während der Mittagspause oft blutige Kriege geführt. Man sieht von hier aus weit über den See.
Ich ließ mich aufs weiche Gras nieder und schaute lange ins Blaue. Sehr hoch und hell war der Himmel. Eine große, schwere Stille lag über allem Land. Die Sommerwärme drang von allen Seiten auf mich ein. Aus den Bäumen sangen die Vögel, von weitem drangen verschwommene Stimmen zu mir, Grillen zirpten, brachen ab und fingen wieder an. Vom See herauf klang die Dampfschiffsglocke. Droben liegt Emma wie irgendein anderer Mensch, wie alle Menschen einmal. Morgen wird man sie eingraben, sie wird langsam zerbröckeln in der Erde, ihr Gesicht, ihre Augen, ihre Zähne werden zu Kot, zu Nichts, und meine Mutter wird das Grab jeden Allerheiligentag umgraben und Geranien oder Tag- und Nachtschatten hinpflanzen und sie begießen. Das Wasser wird bis zur Leiche hinunterlaufen, zu den vermoderten Knochen, an denen die Würmer nagen ... Und die Leute
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