Wir sind Heldinnen: Aus dem unglaublichen Leben der Alleinerziehenden (German Edition)
den folgenden Wochen eine leichte Sorge am ansonsten ausgeglichenen Gemüt der Singlemutter zu nagen. Ist das denn noch normal? Mit Anfang dreißig mehr oder weniger dauerhaft abstinent zu leben? Vielleicht gehört sie einer mutierten trieblosen Unterart der menschlichen Spezies an? Vielleicht ist sie eine biologische Fehlprogrammierung? Oder sie kann gar nicht mehr – selbst wenn sie wieder wollte. Wer weiß denn schon, ob es sich mit dem Sex wirklich so verhält wie mit dem Fahrradfahren? Hat das schon mal jemand wissenschaftlich überprüft? Ist es nicht viel wahrscheinlicher, dass man es durchaus verlernen kann? Hatte sie sich überhaupt schon einmal körperlich vereinigt? Ihre Erinnerung an den konkreten Akt verschwamm von Jahr zu Jahr mehr. Vielleicht war das alles nur ein Traum gewesen. Jedenfalls rechnete sie neuerdings bei jedem Gynäkologenbesuch fest mit dem erstaunten Ausruf der Ärztin: »Schwester Steffi, kommen Sie mal schnell her und bringen Sie alle Kolleginnen mit – da, gucken Sie mal, so was haben Sie noch nicht gesehen. Das ist ein ganz seltener Fall von spontaner Re-Virginisierung. Das kennt man sonst nur aus dem Lehrbuch.«
Sicher war sie wirklich schon längst wieder zugewachsen. Vorsichtshalber hörte sie auf, zum Frauenarzt zu gehen. Wieso auch: Wer keinen Sex hat, braucht keine medikamentöse Verhütung und zieht sich keine Geschlechtskrankheiten zu. Was doch übrigens beides sehr erfreuliche Begleiterscheinung der Keuschheit sind. Als ihr dann aber eines Tages beim Abstauben des Aliberts die Kondome für alle Fälle in die Hände fielen und sie voller Entsetzen feststellte, dass deren Haltbarkeitsdatum seit fünf Jahren überschritten war, wurde es Zeit, sich dem Thema zu stellen. Furcht- und hüllenlos.
Subjektiv gesehen war alles in Ordnung. Sie machte eben gerade eine den Umständen geschuldete erotische Durststrecke durch, deren Ende nicht in Sicht war. Na und? Sie vermisste den Sex ehrlich gesagt nicht besonders. Traurig, aber wahr: Sex mit Männern kann man sich echt abgewöhnen. Zwischenmenschliches Kuschelbedürfnis ist prima an schmusigen Kleinkindern auslebbar und die Befriedigung bei der Selbstbefriedigung auch nicht zu verachten. Aber darf man so denken? War sie geistig und körperlich auch wirklich völlig gesund? Oder vielleicht doch unausgeglichener als andere Leute? Nervöser? Hysterischer? Kränker? Nein, nicht dass sie wüsste. Überschüssige Energie kompensierte sie prima mit Arbeiten und Aufräumen. Außerdem hatte sie ohnehin keine Zeit, röchelnd über die Matratze zu robben. Apropos: Das Kind röchelte schon seit Wochen so komisch – Termin beim Kinderarzt machen. Und sie selbst, immer diese Rückenschmerzen. Liegt sicher an der alten Matratze. Eigentlich hätte längst eine neue angeschafft werden müssen. Was das wieder kostet. Und wie kriegt sie die vom Möbelmarkt nach Hause – gibt es da einen Lieferservice? Und wenn, wie teuer ist der? Und huch, was liegt denn hier unterm Bett? Pokemon-Karten, Lego-Steine, Playmobil-Ritter? Wie kommen die denn dahin? Ach ja, da sind die Kinder neulich rumgerobbt.
So viel zum Thema Robben, Röcheln, Auf-dem-Rücken-Liegen.
Trotzdem behielt sie ihr kleines Abstinenzgeheimnis seitdem noch sorgfältiger für sich. Ein Hustenanfall jagte den nächsten. Denn objektiv gesehen war natürlich gar nichts in Ordnung. Objektiv gesehen kann man als junger Mensch Abstinenz nicht länger als ein paar Wochen ertragen, ohne zu platzen oder verrückt zu werden. Ergo konnte sie nicht alle Latten am Zaun haben oder musste zwanghaft 17-mal am Tag masturbieren, um diese Situation überhaupt aushalten zu können. Und das war nur die rein körperliche Ebene. Von der geistigen mal ganz zu schweigen. Denn objektiv gesehen fehlte ihr da mehr als nur ein kleines Sahnehäubchen. Nämlich: das zentrale Lebenselexier. Des Pudels Kern. Ekstatische Leidenschaft. Leidenschaftliche Ekstase. Das Aufgehen des Ichs im anderen. Die Einheit von Mensch und Natur. Das Behagen der Geschlechter. Die unendliche Zirkulation des Begehrens. Sexualität und Wahrheit. Liebe als Passion. Körper von Gewicht.
Streng genommen war ihr Leben ohne Rüber-rein-raus also sinn- und gehaltlos. Vor allem aber war es: verdächtig. Das hatte sie schnell kapiert. Denn Sex ist ein perpetuummobiologisches Phänomen. Wer Sex hat, hat Sex. Weil: Sex macht sexy. Wo viel Sex ist, will noch mehr hin. Umgekehrt gilt leider auch: Wer keinen Sex hat, hat keinen. Von nichts kommt nichts. Und
Weitere Kostenlose Bücher