Wir sind nur Menschen
Poststempel.
»Aus Erlangen«, sagte er. »Liegt in Bayern. Und kein Absender?«
»Nichts! Nur die nackten Ampullen.« Dr. Cartogeno nahm sie heraus und stieß auf einen Zettel. Peter entfaltete ihn und las vor:
»Beiliegendes Präparat stellt ein Antitoxikum vor. Man injiziere intravenös in Abständen von drei Tagen je 10 ccm sechsmal hintereinander. Nach Ablauf von zehn Tagen in Zwischenräumen von zwei Tagen zweimal 10 ccm. Kleine Herzstörungen können sich einstellen, verschwinden aber nach acht Tagen völlig. Das Antitoxikum ist entwickelt worden zur Bekämpfung von Bissen der ›Schwarzen Witwe‹. Seine Wirkung bei Curare, Urari und anderen Pfeilgiften ist noch nicht erprobt.«
Dr. Cartogeno war vom Tisch herabgesprungen und hatte Peter den Zettel aus der Hand gerissen. Er las ihn noch einmal durch, so gut er die deutsche Sprache verstand, und glänzte über das ganze Gesicht. »Peter«, stotterte er, »Peter, das ist ein Wunder! Der Himmel schickt es und … Du kannst neue Hoffnung haben, du wirst wieder gehen können … Zehn Ampullen …«
Dr. Perthes hatte die Ampullen aus der Watte genommen und drehte sie in den Fingern. Sein Gesicht war undurchdringlich. »Kein Absender«, sagte er nach einer Weile. »Keine Herstellerfirma – nichts! Wir werden die Ampullen wegwerfen, Fernando.«
»Bist du verrückt geworden?« Cartogeno riß die Ampullen an sich. »Ich werde dir die Spritzen geben, genau nach Vorschrift! Und du wirst dich nicht weigern!«
»Und wie werde ich das!« Peter schob sich mit seinem Rollstuhl vom Tisch weg und rollte an das geöffnete Fenster. Hier hatte man einen schönen Blick über den Rio Guaviare und den kleinen Bootshafen. Die Indios legten gerade an und brachten aus den Wäldern Kautschuk als Tauschware gegen Feldgeräte. »Ich wende doch kein Serum an, das nicht erprobt ist!«
»Du hast mit deinem unerprobten Serum Sapolàna und dann dir selbst das Leben gerettet!« rief Cartogeno. »Deine Heimat schickt dir doch kein Gift!«
»Das Paket war anonym. Das genügt mir. Warum nennt der Absender nicht seinen Namen? Warum verbirgt er sich? Ist es ein Chemiker, so könnte er mit diesem Mittel, wenn es hilft, Millionen verdienen. Ist es ein Arzt, so befiehlt es sogar sein Berufsethos, seinen Namen für ein selbstgefundenes Mittel herzugeben. Ist es aber ein Laie, so können wir es getrost als Produkt des Größenwahns wegwerfen.«
»Genauso sprach man über Pasteur! Erinnerst du dich?« Dr. Cartogeno sah noch einmal auf den Deckel des Päckchens. »Kennst du Erlangen?«
»Ja. Es hat eine alte Universität, doch das will nichts besagen. Es gibt auch Richter und Staatsanwälte, die morden.« Peter schüttelte den Kopf. »Es wird ein Scherz sein, Fernando. Ein schlechter, ein bitterer Scherz …«
Er blickte aus dem Fenster. Fleißig luden die Indios den Rohgummi aus und stapelten ihn auf dem Ufersand. Schon kamen die weißen Händler aus den Hütten und begannen mit den Verhandlungen. Ein Fischerboot kam herein, gefüllt mit frischen Fischen. Ihre Schuppen schillerten bunt in der Sonne. Dr. Cartogeno legte das Paket auf den Tisch, und man sprach an diesem Vormittag nicht mehr darüber. Die letzte Hoffnung, die der kolumbianische Arzt beim Eintreffen des Paketes gehabt hatte, schwand jetzt, nachdem eine nüchterne Überlegung die erste Aufwallung der Freude überstieg. Ein anonymes Paket, zehn laienhaft verschlossene Ampullen, eine milchige Flüssigkeit darin, die mysteriöse Beschreibung …
Am Nachmittag ging Cartogeno zu seinem Boot und fuhr den Fluß hinab, um unterhalb der Siedlung die dort angelegte Schlangenfarm zu kontrollieren und neue Giftabstriche vorzunehmen.
Peter sah seinen Freund über den Fluß rudern. Als er außer Sichtweite war, rollte er sich zu dem Experimentiertisch und öffnete von neuem das geheimnisvolle Paket. Kurz entschlossen nahm er aus dem Sterilkasten eine Spritze, entblößte das linke Bein und stieß sich die Hohlnadel tief in die Muskeln. Langsam zog er das Blut ab, bis die Spritze gefüllt war. Es sah dunkel aus, krank, sauerstoffarm. Dann stillte er den Einstich mit Alkohol und beugte sich über das Mikroskop. Einen kleinen Spritzer seines Blutes brachte er auf die Glasscheibe und betrachtete – wohl zum ungezählten Mal! – die Veränderungen seiner Blutsubstanz. Mit verkniffenen Augen nahm er eine Ampulle aus der Watte, löste den Wachsstopfen und träufelte ein wenig von dem Ampulleninhalt in das verseuchte Blut.
Und das Unbegreifliche
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