Wir sind was wir haben - Die tiefere Bedeutung der Dinge fuer unser Leben
zahlreicher und vielfältiger die Funktionen, die ein Gegenstand erfüllt, schreibt Habermas, desto bedeutsamer ist er für den Besitzer. Gerade die wichtigsten persönlichen Schätze sind oft multifunktional.
Natürlich sind nicht jede Socke und jeder Löffel psychologisch relevant. Unsere Häuser und Wohnungen enthalten eine Menge Sachen, von denen wir kaum merken würden, wenn sie verschwänden. Aber viele unserer Besitztümer machen einen wichtigen Teil unseres Identitätsgefühls und unseres Selbstbewusstseins aus. Einen handfesten Referenzpunkt in der realen Welt zu haben, hilft zu verstehen, wer man ist, war oder gerne wäre. Gegenstände haben ihre eigene Geschichte, wir haben sie gekauft, geschenkt bekommen oder selbst hergestellt. Sie sind Ausdruck unseres Stils und unseres Lebensgefühls, sie erweitern unseren Aktivitätsradius, inspirieren uns zu neuen Gedanken, stellen die Verbindung her zu Zukunft und Vergangenheit. Aufgrund ihrer fast »magischen Fähigkeit als Bedeutungsträger« (Belk) können sie uns mit tieferen, manchmal bewusst nur schwer zugänglichen Aspekten unseres Lebens in Berührung bringen.
Die psychologische Bedeutung von Dingen ist, wie dieses Kapitel gezeigt hat, keineswegs nur ein Phänomen der westlichen Konsumwelt. Überall auf der Welt definieren sich Menschen (auch) über ihre Sachen. Ebenso wenig ist die Beziehung zu Dingen auf ein bestimmtes Lebensalter beschränkt, sie beginnt früh und dauert ein Leben lang. Wie das Verhältnis entsteht und sich zwischen Geburt und Tod entwickelt, soll Thema der nächsten drei Kapitel sein.
Kapitel 3
Wie es anfängt: Von echten und digitalen Schmusedecken
I m Sommer 2010 sah ich einen Film, der auf wunderbare Weise zeigt, wie und wann unsere Beziehung zu Dingen beginnt. In Babys verfolgt der französische Regisseur Thomas Balmès das erste Lebensjahr von vier Säuglingen, die auf unterschiedlichen Kontinenten geboren werden. Man sieht, wie die Kleinen gestillt und gefüttert werden, wie sie krabbeln lernen, mit Geschwistern und Tieren spielen und mit den Eltern schmusen. Der Film beleuchtet viele Aspekte des Babylebens, doch einer fällt besonders ins Auge: Gegenstände spielen im Alltag der Winzlinge eine zentrale Rolle.
Gleich zu Beginn des Films kann man beobachten, wie Ponijao, jüngster Spross einer Hirtenfamilie aus Namibia, eine wichtige Lektion lernt. Der Kleine sitzt mit dem älteren Bruder auf dem staubigen Boden der heimischen Lehmhütte. Der Große zerreibt Lehmklümpchen zwischen zwei Steinen, so wie es auch die Erwachsenen bei der Herstellung der traditionellen roten Körperfarbe machen. Mit großen Augen schaut Ponijao zu und macht es dem Bruder dann nach. Als ihm nach einer Zeit langweilig wird, greift er nach einer leeren Plastikflasche, die neben ihm liegt. Der große Bruder ist damit nicht einverstanden und gibt dem Kleinen einen Klaps. Der wehrt sich und fängt lauthals an zu schreien. Je interessanter ein Gegenstand, muss der kleine Afrikaner erkennen, desto eher melden auch andere Kinder Besitzansprüche an. Die brüderliche Kabbelei hört erst auf, als die Mutter eingreift und Ponijao zu sich ruft.
Auch die temperamentvolle Mari aus Tokio wird mit den Herausforderungen der materiellen Welt konfrontiert. Inmitten eines Berges aus Spielzeug sitzend versucht die kleine Japanerin einen Holzstift durch eine Holzscheibe zu schieben, die mit einem entsprechenden Loch versehen ist. Der erste Versuch verläuft gar nicht so schlecht. Sie schafft es, den Stab in das Loch zu führen. Doch dann fällt ihr alles aus der Hand. Mit hinreißender Theatralik wirft sie sich zur Seite und rollt sich laut weinend hin und her. Da niemand sie trösten kommt, lässt sie das Jammern schnell wieder sein und startet einen neuen Versuch. Als er abermals nicht gelingt, wirft sie sich zu Boden und schreit. So geht das vier oder fünf mal.
Bayarjargal, Sohn nomadischer Viehbauern aus der Mongolei, hat mehr Spaß an seinen Aktivitäten. Der pausbäckige Säugling, der mit seinen Eltern in einem einfachen Haus in den Weiten der Steppe lebt, wickelt staunend eine Rolle Toilettenpapier ab. Seine Augen leuchten. Er kann es nicht glauben, so scheint es, dass die weiße Pracht immer länger und länger wird. Auch die aufgeweckte Hattie aus San Francisco geht ganz in der Welt der Dinge auf. Wenn sie fasziniert die vielen bunten Teile des Mobiles über ihrer Wiege ertastet oder in ihrer Babyschaukel wie ein Gummiball auf und ab hüpft und dabei vor
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