Wir tanzen nicht nach Führers Pfeife - ein Tatsachen-Thriller über die Edelweißpiraten
an der Hand. Der Koffer war umgefallen. Paul hob ihn auf. Im Bahnhofsgetümmel entdeckte er Bastian, der nahe bei seiner Mutter stand und die Oma im Arm hielt. Franzi alberte mit Opa Tesch herum.
Karlu stand daneben und sah etwas verloren aus. Irgendwie rechnete Paul es ihm hoch an, dass er sich heute hier blicken ließ und seinen Opa verabschiedete. Natürlich trug Karlu Uniform. Er hatte Opa Tesch ein paar Sachen eingepackt und half ihm mit den Koffern. Er hatte sich höflich von Frau Frei verabschiedet und er hatte Paul respektvoll gegrüßt. Paul ahnte, dass Ziegen dahintersteckte. Karlu war Ziegens Informant auf der Gegenseite. Sein Spitzel. Bei dem Wort wurde es Paul fast schlecht, er war ja selbst einer.
»Paul.« Elli wurde ungeduldig. »Jetzt sag endlich!«
Paul wunderte sich. Er saß hier auf dem Bahnsteig, redete mit Elli in einer überaus wichtigen Angelegenheit und dachte dabei über Karlu nach. Dafür gab es kaum eine Entschuldigung.
»Also«, begann er daher sofort. »Ich kenne Herrn Wutz seit meiner Geburt. Herr Wutz war immer da, wenn ich ihn gebraucht habe. Er hat mir Geschichten erzählt, die richtig waren. Er hat mir nicht das Blaue vom Himmel heruntergelogen. Herrn Wutz gibt es also wirklich. Deswegen. Weil er einfach da war.«
»Das ist jetzt aber schwierig. Kannst du nicht einfach Ja oder Nein sagen?«
»Es gibt Fragen, da geht das nicht. Da kann ich dir keine Antwort geben. Du musst sie selbst finden. Wutz wird bei dir sein, wenn du an ihn glaubst. An guten und an schlechten Tagen.«
»Heute ist kein guter Tag?« Ellis kleine Stimme zitterte.
»Doch, Elli. Heute fährst du mit Herrn Wutz und deiner Familie aus diesem Krieg hinaus. In Pfronten ist bestimmt weniger Krieg. Grüß mir die Berge und die Kühe. Pass auf Herrn Wutz auf. Trink deine Milch. Mach verrückte Sachen. Zum Beispiel könntest du über eine Wiese laufen und Blumen pflücken.« Mit leiserer Stimme fügte er hinzu: »Und wenn dir das Geschrei der Nazis einmal zu laut wird, dann suchst du dir ein ruhiges Plätzchen oder du ziehst einfach die Vorhänge zu. Und dann siehst du Herrn Wutz in die Augen. Der kann nämlich auch Gedanken lesen.«
Paul stand auf. Eigentlich hatte er viel zu lange geredet. Er hätte Elli einfach sagen müssen, dass es Herrn Wutz wirklich gibt.
»Und jetzt geh zu deiner Mutter und sag Bastian Auf Wiedersehen.«
Dann hob er die Hand, winkte zu Opa Tesch hinüber, verließ den Bahnsteig und wunderte sich, warum er plötzlich alles nur noch verschwommen sah. Keine Minute länger hätte er es ausgehalten, sonst hätte er losgeheult.
Er stellte sich vor das Portal in den Regen und wartete auf Bastian und Franzi. Er kramte in seiner Hosentasche und vergewisserte sich. Da waren die Lebensmittelmarken und die zwanzig Mark, die er noch besaß. Er würde die beiden heute einladen. Und Karlu würde er in den Hintern treten, falls der sich an sie hängen sollte. Da hatte er so richtig Lust drauf. Weil er so wütend war. Weil ihn alles so traurig machte. Weil Elli gefragt hatte, wie wirklich alles war.
Er musste an Freddie denken, der Hals über Kopf verschwunden war. Sie hatten keine Zeit gehabt, Auf Wiedersehen zu sagen. Der stand jetzt irgendwo am Westwall und schaufelte Panzergräben. Fatz hatte zwar behauptet, dass der nach zwei Tagen wieder da wäre, aber Freddie war noch nicht wieder aufgetaucht.
Hotte hatte geschrieben. Sie hatten ihm in einer Kaserne in der Nähe von Osnabrück beigebracht, ein Funkgerät zu bedienen. Auf ihre Funker würden sie schon aufpassen und die nicht völlig sinnlos verheizen.
Franzi stürzte sich in die Arbeit und hielt mit Frau Rose die Gärtnerei am Laufen. Es war kein Zuckerschlecken. Oft wussten sie nicht, wie sie über den Winter kommen sollten. Geld war genug da, aber es gab nichts zu kaufen. Selbst der Schwarzmarkt war manchmal wie leer gefegt. Weihnachten war praktisch ausgefallen. Sie hatten es kaum bemerkt.
»Und was machen wir jetzt?« Franzi riss Paul aus seinen Gedanken und hakte sich bei ihm ein. Bastian stand direkt hinter ihr.
»Kommt mit, ich lade euch ein«, antwortete Paul. »Da ist etwas, was ich dir erzählen muss, Bastian. Franzi weiß es bereits.«
Sie schlenderten ohne Hast zum Kolpinghaus. Das hatte geöffnet. Zwei gebackene Kartoffeln, eine Scheibe Graubrot und eine Tasse mit dampfendem Pfefferminztee gab es für jeden. Paul zahlte und sie setzten sich an einen der freien Tische hinten in die Ecke. Er hatte jetzt noch 18 Mark und 40
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