Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wir toeten nicht jeden

Wir toeten nicht jeden

Titel: Wir toeten nicht jeden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Salem
Vom Netzwerk:
Küsse bis zum Zeltausgang, wo sie den Reißverschluss hochzog, der uns von der Welt und ihren Geräuschen isolierte, der flüchtige Anblick ihrer Beine, der die Begierde jäh wieder entfachte, der letzte, noch ausstehende Kuss – und dann war Yolanda verschwunden, und mit dem Reißverschluss senkte sich hinter ihr der Vorhang.
    Das war vor fünfzehn Minuten.
    Und auf einmal dämmert mir, woher ich die beiden Geräusche kenne: das, das zu viel ist, und das, das fehlt.
    Und sie bedeuten ein und dasselbe.
    In den letzten acht Jahren habe ich sie Dutzende Male wahrgenommen, vielleicht sogar noch öfter, und davor sicher auch ab und zu, obwohl ich sie wie die meisten Leute damals noch nicht zu deuten wusste: diese Stille, nachdem eine Nachricht wie ein Blitz eingeschlagen hat, ein Blitz, der einen zwar nicht selbst getroffen, aber so nah niedergegangen ist, dass einem vor Entsetzen das Blut in den Adern gefriert; dieses kaum wahrnehmbare Gemurmel, das noch keine Beine hat, um sich wie ein Lauffeuer zu verbreiten; dieses Schweigen, das nur von vorsichtig angedeuteten Spekulationen durchbrochen wird; dieser Klang einer dunklen, vagen Furcht: Dies alles bildet den Soundtrack zu dem angeblichen oder tatsächlichen Fund einer Leiche.
    Wenn die breite Masse etwas mit Bestimmtheit weiß, redet sie darüber. Wenn sie noch keinen konkreten Anhaltspunkt hat, ihr aber nichts Gutes schwant, senkt sie die Stimme, dämpft die alltäglichen Geräusche und wartet ab, bis sich ihr die Gelegenheit bietet, ihre Version des Geschehens kundzutun und Kommentare abzugeben wie Wer hätte das gedacht? oder Der war mir ja schon immer suspekt oder Der Mensch denkt, und Gott lenkt .
    Das Gemurmel, das mich draußen erwartet, und die Stille, die die üblichen Morgengeräusche schluckt, bilden die Vorder- und Rückseite derselben Medaille, auf der hinten wie vorne groß R.I.P. steht.
    Als ich den Reißverschluss hochziehe, sehe ich drei Streifenwagen.
    Und zwischen all den Uniformierten – Kommissar Arregui.
    Dummerweise bin ich kurz stolz darauf, mit meiner Vermutung richtiggelegen zu haben. Dabei hätte ich mich tausendmal lieber geirrt.
    Wie weit sie wohl mit ihren Ermittlungen sind? Ich habe keine Ahnung, aber alles deutet darauf hin, dass sie die Situation noch nicht unter Kontrolle haben. Yolandas übereifriger Chef steht jedenfalls kurz vor einem Nervenzusammenbruch.
    Wer ist der Tote?
    Ich fürchte ja, dass der Richter dran glauben musste und sich letztlich alles auf ein sommerliches Versagen in der Verwaltung zurückführen lässt: Wahrscheinlich hätte anfangs ich ihn umbringen sollen, dann aber entdeckten sie meine Beziehung zu Leticia und beschlossen, jemand anders damit zu beauftragen, und das weit weg von meinem Urlaubsdomizil, damit ich nicht in die Sache verwickelt würde. Auftrag erledigt, Name auf der Abschussliste abgehakt, so einfach ist unser Job. Nur: Warum macht es mich dann so traurig? Es ist schließlich nicht das erste Mal, dass ich einen »Kunden« gekannt habe. Habe ich mich schon so verändert?
    Noch bleiben mir die Reflexe.
    Als Erstes solle ich meinen Kopf benutzen, riet mir die alte Nummer Drei immer.
    Also schlendere ich wie ein ganz gewöhnlicher Camper zur Cafeteria, von wo aus ich den Polizisten bei der Arbeit zusehen will. Arregui hat mich zum Glück noch nicht entdeckt, was mir ganz recht ist.
    Bestimmt erkennt er mich wieder. Als wir uns vor vier Jahren zum ersten Mal begegnet sind, war ich ein blonder Engländer und ein potentieller Zeuge der schlimmsten Sorte: Einer, der nichts gesehen hat. Ich behauptete, John Chambers zu heißen, und sprach ein so schlechtes Spanisch, dass Arregui für die Befragung auf seine paar kläglichen Brocken Englisch zurückgreifen musste. Er tat das ganz freundlich und ohne jeden Argwohn, mit der Miene eines Beamten, der die Formalitäten abhaken will, um rasch in die Stammkneipe zu seinem Feierabendbier zu kommen.
    Er war gefährlich, dieser Arregui. Das spürte ich sofort. Damals behandelte er mich als das, was ich war: eine Tagungsbekanntschaft des Toten, nur mit ihm verbunden, weil wir beim Essen am selben Tisch saßen und zufällig Zimmernachbarn waren. Der arme Kerl hatte wirklich Pech gehabt; wer vermutet schon eine seltene afrikanische Spinne in den bis zur Decke mit Teppichen ausgelegten Fluren eines Madrider Luxushotels? Noch dazu eine Giftspinne, deren Biss binnen einer Stunde zum plötzlichen Tod führt?
    » Very strange «, murmelte Arregui damals in seinem

Weitere Kostenlose Bücher