Wir waren unsterblich (German Edition)
mit allwissendem Lächeln geantwortet: „Glaube mir, es ist besser so.“
Arschloch!
Hilko lauschte meiner ausführlichen Schilderung der Ereignisse im Keller und wie alle anderen zuvor wiederholte er nachdenklich: „Der Lichtlose!“
Einen Moment herrschte Schweigen. Töffel räusperte sich. „Also, ich denke, das waren die Spinner, die nach uns kommen.“
Es war leicht, viele Stunden später und im Licht eines wenn auch regnerischen Tages so etwas zu behaupten. Aber es stimmte: Wenn wir längst zu Hause sein mussten, fand manchmal auf dem verlassenen Hof eine Art Schichtwechsel statt. Die Älteren kamen. Jungen, hin und wieder mit Mädchen. Allesamt rauchend und mit viel Alkohol. Die leeren Flaschen legten davon Zeugnis ab. Im Suff hatten sie auch sämtliche Scheiben zerschlagen.
„Vielleicht nennt sich einer der Anführer so“, überlegte Hilko.
So viel Fantasie traute ich denen nicht zu. Da waren Typen wie Bossel, erst achtzehn Jahre alt und doch nahm sein Gesicht bereits eine violette Färbung an. Wie bei den alten Trinkern – irgendwo zwischen dreißig und sechzig – die mit ihrem billigen Schnaps auf Parkbänken hockten. Bossel überholte sie alle. Und doch hing eine Reihe Jungen an seinen Lippen, wenn er ein Bier nach dem anderen leerte und die Kronkorken mit seinen Stiefeln zu einem goldenen Muster in den Spielplatzsand stampfte. Mit Vorliebe faselte er von irgendwelchen mehr oder weniger kriminellen Aktionen, die er oder andere angeblich erlebt hatten. Manchmal hockten wir uns in den Kreis seiner Zuhörer. Bossels Schäferhund lag dann neben ihm und musterte uns misstrauisch. Den Köter fand ich um Längen bedrohlicher als sein von Stunde zu Stunde immer heftiger lallendes Herrchen. Bossel widersprach sich ständig und seine Geschichten entpuppten sich als das, was sie waren: Wichtigtuerei.
Charlie war da schon von einem anderen Kaliber. Er redete eigentlich nie, fuhr mit seinem frisierten metallicgrünen Zündapp-Moped die Straßen auf und ab. Oft saß er verkehrt herum auf dem Ding oder machte sogar einen Kopfstand. So eine Art angeberische Zirkusvorstellung für das ganze Viertel. Es war lächerlich, aber niemand wagte es, zu grinsen oder mit dem Finger auf ihn zu zeigen, denn selbst diese Show zog er mit einem völlig ausdruckslosen Gesicht ab. Wie ein Roboter, der dem Zwang unterlag, seinem Publikum jeden Tag neue Kunststücke vorzuführen. Leo hatte schon mal einen Totschläger bei ihm gesehen. Eine biegsame Metallfeder, die in seiner Faust hin und her schwang. Das passte zu Charlie, fand ich. Kein Messer, sondern dieser Totschläger, dessen Feder mit einer kleinen und harten Kugel an der Spitze durch eine ruckartige Bewegung aus dem Schaft fuhr. Einige der älteren Mädchen standen auf ihn.
Aber weder Charlie noch Bossel besaßen in meinen Augen genügend Fantasie, um sich als Der Lichtlose zu bezeichnen. Denen würde nur Bruce Lee oder Godzilla einfallen.
„Dann kannst du nicht mit nach Hausfriedensbruch?“, fragte Leo. Töffel sog den Atem mit einem zischenden Geräusch ein. Markus wandte sich nach ihm um. Halb belustigt, halb verärgert sagte er: „Sollen wir da etwa nicht mehr hingehen? Glaubst du etwa, der alte Hof sei verhext oder so?“
„Ach was! Nöh! Aber wir können doch Hilko nicht allein lassen. Außerdem ...“ Töffel deutete zum Fenster und ich sah ganz deutlich die Erleichterung in seinem Gesicht. Erst war es nur ein feiner Nieselregen, dann klatschten die Tropfen gegen das Glas, so dass die Welt da draußen durch die Schlieren herunterlaufenden Wassers kaum noch zu erkennen war. Wir würden die zwei Kilometer zum Bauernhof fast schwimmen müssen.
Markus fluchte und ließ sich in den Sessel fallen. Hilko legte Uriah Heep auf. Er besaß über dreißig LPs.
„Starke Scheibe!“, meinte Töffel begeistert, dabei hatte er als einziger von uns überhaupt nichts für Musik übrig. Woher kam seine Angst? Ich beschloss, ihn später nach Hause zu begleiten. Vielleicht konnte ich, ohne die anderen, mit ihm über die Sache reden.
Die Wolken ließen dem Mond kaum eine Chance. Nur für Sekunden lugte er durch ein Loch. Groß, pockennarbig und blass. Neben mir wich Töffel geschickt den Pfützen aus. Es regnete nicht mehr, aber die Luft war warm und feucht. Feine Tröpfchen klammerten sich an unsere Gesichter.
Das Hochhaus überragte alle anderen Gebäude in der Nähe. Töffel hatte noch nie einen von uns mit in die Wohnung seiner Tante genommen. Wir baten ihn auch nicht
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