Wir wollen Freiheit
wird viel darüber diskutiert, wie der Hass auf Christen ein solches Ausmaß annehmen konnte. Die Islamisierung der Schulbildung, den Einfluss der
Salafisten
und auch der
Muslimbrüder
sehen viele als Grund. Die Solidarisierung vieler Ägypter mit der
Muslimbruderschaft
nach der gravierenden Wahlfälschung schlägt um in Skepsis und Misstrauen.
Wahabitische
Ideen werden als Quelle des Fanatismus gesehen und wenige machen sich die Mühe, zwischen
Salafisten, Wahabiten
und
Muslimbrüdern
zu unterscheiden. Oft sind die Übergänge ja auch fließend. Die
Muslimbrüder
haben also auch in der Gesellschaft keinen einfachen Stand, als die Revolution losgeht. Ebenso wie der Pop-Islam ist auch der politische Islam in einer Krise, als die Revolution beginnt. Es ist niemand in Sicht, der sich an die Spitze eines Volksaufstandes stellen könnte. Das ist auch ein Grund dafür, dass die Revolution so wenig islamistisch war.
Religion der Revolution – Revolution der Religion?
In den 18 Tagen auf dem Tahrir-Platz verändert sich Ägypten und auch seine Religion. Die Revolution bringt die Menschen nicht vom Glauben ab, im Gegenteil. Allerdings verschieben sich wie beschrieben im Frühling 2011 die Prioritäten: Freiheit, Gerechtigkeit und Demokratie rücken ins Zentrum. Dennoch gehört das gemeinsame Gebet für viele zu ihren |163| schönsten Tahrir-Erlebnissen und das erzählen nicht nur Demonstranten aus dem islamischen Lager. Auch Liberale und Linke berichten davon. »Wir sind nun einmal ein religiöses Volk, das hat mit unseren politischen und ideologischen Überzeugungen wenig zu tun«, sagt der Aktivist Aid Beschir. Die Religion wird auf diese Art entideologisiert. Sie wird sehr viel mehr zu einer Privatangelegenheit des einzelnen Bürgers, der sich zwar weiter über die Zugehörigkeit zu einer Religion definiert, aber vor allem Ägypter ist. Genau hierin liegt die Chance für eine Erneuerung des
Pop-Islam
. Statt mit Äußerlichkeiten die Religiosität zu betonen, konzentrieren sich die Gläubigen auf ihren Glauben im Inneren. Ansonsten kümmern sie sich darum, ihr Land aufzubauen und da wird jede Hand gebraucht. Endlich gibt es das Ziel, nach dem viele gesucht haben. Für lange Überlegungen, welche Gebetshaltung richtig ist oder ob das Kopftuch zur Handtasche passt, ist im Frühjahr 2011 keine Zeit.
Der neue Trend wird ganz deutlich bei einem Anruf bei Geschäftsfrau und Designerin Suzanna Kamel. In Ägypten ist es seit einigen Monaten modern, dass Anrufer statt des Freizeichens eine Melodie hören. Die Handybesitzer können zwischen vielen Varianten wählen und zeigen ihren Anrufern so, was ihnen gefällt. Suzanna Kamel hatte beim letzten Anruf im November 2010 Koransuren als Wartezeichen. Seit dem Sturz Mubaraks ertönt: »Du bist wie eine Mutter, mein geliebtes Ägypten«, der Hit der Revolution. Neben ihrer Wohnungstür hängt ein Poster mit den Märtyrern und Suzanna Kamel empfängt ihren Besuch mit strahlender Miene. Gerade hat sie ihre Kollektion für den Arabischen Frühling in die Geschäfte gebracht. Die Modelle heißen »Freiheit«, »Vaterland« und »Baltagia«. Aus Prinzip hat sie alle Längen im Angebot: von der kurzen Tunikaform, die bis zur Hüfte geht, über die Oberschenkellänge bis hin zu knie- und knöchellang. »Es hängt sehr von der Religiosität, der Einstellung |164| und auch dem sozialen Umfeld einer Frau ab, wie lang sie ihre Oberteile wählt«, sagt sie. Daran ändere die Revolution wenig, allerdings rechne sie damit, dass sie in der kommenden Saison eher mehr kurze Teile verkaufen werde. »Ich denke, dass die ganz lange Form weniger verlangt werden wird, einfach weil die Frauen, welche sie trugen, bisher sehr zurückgezogen gelebt haben. Sie hatten selten Austausch mit Andersdenkenden. Die Revolution hat die Gesellschaft insgesamt aufgerüttelt und Leute in Kontakt gebracht, die sich vorher nicht getroffen hatten«, sagt sie.
Etwas neidisch schaut sie auf einen Trend, der in diesem Frühjahr scheinbar wie aus dem Nichts aufgetaucht ist: »Von mir stammt das nicht und ich glaube auch von keiner anderen Firma. Die Frauen haben einfach damit angefangen und dann haben die anderen mitgemacht!«, sagt die Designerin. Die modebewusste Muslima trägt in diesem Frühjahr Bauernlook. Knallbunte Tücher mit großen Blumen, so wie sie seit Jahrzehnten von den Landfrauen getragen werden, sind der letzte Schrei. Oft blitzt vorne eine Ponysträhne heraus und gern kombiniert frau dies mit kleinen
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