Wir Wunderkinder
kindisch vor.
Ich fuhr zu Wera. Sie war aus Davos als geheilt entlassen worden, und nun wollten wir gemeinsam in den sizilianischen Frühling reisen. Ich fühlte mich sehr charakterfest, weil ich seit der Neujahrsnacht jede Begegnung mit der Verlobten des Herrn Ingvald Henriksen vermieden hatte. Mein Unterbewußtsein hielt allerdings von solcher Charakterfestigkeit weniger; denn es schickte mir in bezug auf Kirsten, wie Goethe dies genannt hatte, ›konziliante Träume‹.
In meinem D-Zug freilich, der durchs Inntal dem Brenner entgegenraste, eilten meine Träume schon zu Wera voraus, und das langbeinige Fräulein aus Gilleleje versank für mich im nebelgrauen Kattegatt, wo sie jetzt ihre Semesterferien verbrachte.
Es war beinahe zuviel des Guten auf einmal, was mich nun erwartete: der unbekannte Süden, der Frühling – und Wera. Alle bezaubernden Stunden, die wir gemeinsam durchlebt hatten, von Tante Remmys Zaun bis zum Glockenspiel und der Fontänennacht, wurden wieder Gegenwart. Ich schaute immer wieder aus dem Fenster, ob nicht der Tag anbräche. Aber es war noch Nacht über Tirol, finstere Neumondnacht. In Matrei hörte ich die Sill rauschen, und hier und da sah man schon Licht in breiten, behäbigen Bauernhäusern. Die Luft draußen war wunderbar rein, leicht und würzig.
Auf der Paßhöhe lagen letzte schmutzige Schneereste. Zum erstenmal hörte ich das laute und doch melodische Geschwirr italienischer Stimmen. Bersaglieri mit Hahnenfederhüten. Kleine Offiziere, die sich frierend in togaähnliche Mäntel hüllten und ihrem neuen Cäsar den Aufenthalt in diesem nordischen Barbarenwinkel übelnehmen mochten. Ein Uniformierter mit schwarzer Troddelmütze kam geradewegs aus einer Verdioper in unser Abteil und begehrte die Pässe zu sehen, die er mit einer Suchliste verglich.
Dann begann es: die milde Luft vom Etschtal her, die Weinberge von Südtirol. Bozen. Ich sagte still für mich etwas Minnigliches von Walther von der Vogelweide auf mittelhochdeutsch auf.
Und da waren auch schon die ersten Palmen, noch ein bißchen klein und ängstlich, noch ein wenig denen daheim verwandt, die von ihren Töpfchen nicht wegkamen. Noch leuchtete auch firniger Aprilschnee von fernen Gletschern. Aber im nahen Tale war der rosa Blütenschnee der Apfelbäume, lau und süß die Luft, und auf einem Campanile in Trient überschlugen sich die Glocken an großen Eisenrädern und ihre Töne in der blauen Morgenluft.
Noch einmal Felsen, bedrohlich nah heranrückend. Die Veroneser Klause. Schnell Geschichte repetieren: Dietrich von Bern, die Rabenschlacht.
»Was wißt ihr Borschen von Dietrich von Bern? Tiches? Nichts, wieder nichts! Setzen, der Borsche!«
Es klopft an die Fenster. Natürlich die Meisegeiers. Nein, der italienische Kontrolleur:
»I biglietti, per favore …«
Aber jetzt nicht mehr schlafen! Verona in Sicht. Wera in Sicht. Eine Stadt, zärtlich in die Arme blauer Berge geschmiegt. Zärtliche Arme …
»Wera! Wera!«
»Hattest du eine gute Reise? Wie geht's dir?«
»Danke, und dir? – Halt, mein Koffer. Sie, Signore, nix! Niente! Stehenlassen! Selbst Kraft genug! Forza tedesca! Nicht schimpfen, Alter. Entschuldige, Wera, ein bißchen viel auf einmal!«
Wir sitzen in einem Taxi. Wera sieht eigentlich noch genauso aus wie damals. Das heißt, die Frisur steht ihr nicht. Das kurze Bubenhaar war hübscher. Aber es ist doch noch immer dieselbe weiche, blonde Welle. Traditionsbewußter Stil – so etwas ändert sich nicht. Aber älter ist sie doch geworden, schmaler – die Züge ein bißchen scharf. Die vielen Jahre, die lange Krankheit. Kein Wunder …
»Wie bitte, Kirsten? – Entschuldige, Wera, ich bin ein bißchen übernächtig. Ohne Schlafwagen, dritter Klasse … Ach so, das ist die Arena. Diokletian, richtig. So, sie machen jetzt auch wieder Festspiele drin? Oder immer noch? Die armen Löwen: Jeden Tag Christen …«
Weras Lachen klingt ein bißchen gezwungen. Sie sieht mich prüfend von der Seite her an. Wie dumm, daß mir der Name von dem Fräulein aus Gilleleje plötzlich herausgerutscht ist. Nicht nett, daß die sich jetzt mit diesem Herrn Henriksen herumtreibt.
»O danke, es ist lieb von dir, Wera, daß du das auslegst. Ich habe noch keine Lire eingewechselt.«
Ein sehr altes Hotel namens ›Gabbia d'oro‹. Was mag denn das heißen? Irgend etwas mit Gold jedenfalls. Alles aus Stein: die Treppen, die Flure, die Fußböden in den Zimmern. Ein bißchen fremd am Anfang.
»Das ist dein
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