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Wir Wunderkinder

Titel: Wir Wunderkinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hartung Hugo
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Melusine. Sie war meine Bellezza, meine Julia. Fünf kleine Offiziere liefen uns hinterdrein, als wir aufbrachen, um ins Hotel ›Gabbia d'oro‹ zurückzukehren.
    »Felicissima notte«, sagte der Fahrstuhlboy, als er uns nach oben befördert hatte.
    Sagen Sie mal in Neuß am Rhein oder in Tuttlingen zu jemandem: ›Glückseligste Nacht!‹ …
    Wurde es eine glückselige Nacht? Ich war so müde … Noch in mein Einschlafen hinein hörte ich Wera durch die dünne Wand im Nebenzimmer gurgeln.
    Ich weiß nicht, ob draußen auf der Piazza delle Erbe auch weiterhin Arien gesungen wurden. Ich hörte jedenfalls welche – die ganze Nacht hindurch –, und Mädchen mit Stöckelschuhen fütterten die Löwen des Diokletian mit Spaghetti. Einer von den Löwen aber wuchs und wuchs und schnaubte mich mit seinem Feueratem an: »Ich heiße Ingvald Henriksen!« Da stieß ich ihm den Degen in den Leib. Kirsten aber kränzte mein Haupt mit einem duftenden Lorbeerkranz und küßte mich auf die Stirn.
    Wera küßte mich auf die Stirn. Ich hatte wohl eben vergessen, die Tür abzuschließen.
    »Schön, daß wir beisammen sind«, sagte ich und streckte die Arme nach meiner Baronesse aus.
    »Steh auf«, sagte sie, »wir müssen zur Bahn.«
    Die Sonne schien bereits warm und südländisch kräftig.

›Glocke für Hülfe‹
    Was ich jetzt erzähle, hat mit Bruno Tiches und seinen Memoiren überhaupt nichts zu tun – es sei denn, man stelle sich unsere Genugtuung darüber vor, daß wir zunächst einmal von den ›Tichessen‹, wie wir abkürzend unser neues Regime nannten, eine Zeitlang nichts mehr zu sehen, zu hören und zu lesen brauchten. Und Brunos Aufzeichnungen sind eben schuld daran, wenn ich nun mein eigenes Leben noch einmal in allen Einzelheiten Revue passieren lasse, einschließlich meiner, unserer italienischen Reise.
    »Erste Italienische Reise, April bis Mai 1933«, würden künftige Schulkinder zu lernen haben, wenn ich es je zu etwas gebracht hätte. So bleiben ihnen wenigstens Aufsatzthemen wie diese erspart: »Wurde die Baronesse Wera durch die italienische Reise von R … {39} zu seiner unsterblichen Geliebten?«
    Aber vielleicht wiegen ein einziger Tag und eine einzige Nacht der Sterblichkeit mit 33 1/3 Prozent Fahrpreisermäßigung der italienischen Staatsbahn, einschließlich Schiffsbeförderung von Neapel bis Palermo, eine lange, fahle, nicht vorstellbare Unsterblichkeit in Zettelkästen auf.
    Italien wurde vor den Abteilfenstern immer klassischer. Zwischen Trasimenischem See und Soracte fingen wir an, uns Oberschul-Unterklassenfragen zu stellen. Wir zählten die sieben Hügel Roms nach, als Michelangelos Peterskuppel mit fünfunddreißigminütiger Verspätung auftauchte. Es fehlten welche. Wir kauften auf der Stazione Termini ein noch grillwarmes Brathuhn, dessen Vorfahren Nero und Lucullus umgackert und mit Eierspeisen versorgt haben mochten. Am Nachmittag wurde es ganz schön heiß, und wir stellten uns unsere Fragen gähnend und beantworteten sie in Stichworten. Etwa so:
    Wera: »Capua?«
    Ich: »Hannibal. Luxus und Verweichlichung von Kriegern.«
    Wera: »Stammen dort die Kapaune her?«
    Ich: »Ich glaube nicht, aber sie tun mir trotzdem leid.«
    Wera: (gähnt)
    Ich: (gähne gleichfalls; dann nach langer Pause): »Sieh Neapel und stirb!«
    Wera: »Ich denke gar nicht dran.«
    Wir dachten beide nicht daran. Einfach weil wir uns in Neapel keine ewige Ruhe vorstellen konnten. War das eine laute Stadt! Ich glaube, dort hatten sogar die Fußgänger Autohupen. Drehorgelmänner sangen auf italienisch ›Ich küsse Ihre Hand, Madame‹. Nirgends hörten wir das neapolitanische Volkslied unserer Liederbücher ›Santa Lucia‹.
    Betrunkene Matrosen übertönten die Drehorgelmänner, Droschkenkutscher die Matrosen, Lautbrüller aus allen Fenstern die Droschkenkutscher.
    »Horch, eine Nachtigall«, schrie mich Wera entzückt an.
    »Pausenzeichen im Radio«, schrie ich zurück.
    »Gibt's hier überhaupt Pausen?«
    »Nie.«
    Aber dann war doch alles wie auf den schönen, bunten Ansichtskarten unserer Kindheit: das blaue Meer, der berühmteste Busen Italiens – damals gab es dort noch keinen Filmkurvenkult –, die Pinie am Grabe des Vergil, ein dezent rauchender Vesuv.
    Wir gingen frühzeitig an Bord, und als das Schiff abgelegt hatte und Kurs auf Capri nahm, überwältigte es uns vollends: die laue Abendluft mit süßwürzigen Düften, die weit ausschwingende Bucht, mit Lichtern bestickt; und ein Reißverschluß aus

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