Wir Wunderkinder
Gewissen Wera gegenüber hätte erleichtern müssen, fühlte ich mich, nach dem heißen Punsch, wie mit eiskaltem Wasser begossen.
Im selben Augenblick wurde draußen die Tür aufgeschlossen, und Familie Roselieb strudelte heiter schwatzend in den Flur. Es klopfte. Ich rückte auf Distanz von dem weißen Abendkleid, und Kirsten bat herein. Frau Roselieb stand unter der Tür, ein wenig verwundert, aber in ihrer umständlich liebenswürdigen Art auch sogleich wieder gefaßt.
»Ich hatte Sie schon immer miteinander bekannt machen wollen«, sagte sie bürgerlich zeremoniell.
»Oh, isch kenne diesen bereits grundsässlisch«, flötete Kirsten.
Und ehe noch Frau Roselieb über das letzte Wort hätte nachdenken können, stand schon ihr Mann unter der Türe und schwenkte, von Silvesteralkoholika fröhlich bewegt, seine Trompete. Kirsten sah es begeistert.
»Können Sie Lohengrin blasen?« rief sie bittend.
»Nein, Fräulein«, sagte Herr Roselieb mit leicht rheinischem Akzent, »aber die Kavalleriesignale.«
Und schon schmetterte es markdurchdringend in unsere Ohren, in Kirstens Zimmer und den aufdämmernden Neujahrsmorgen 1933.
Dorthin paßte es leider ganz gut.
Romeo und Wera
Ich war schon beim Kofferpacken, als Frau Roselieb Andreas in mein Zimmer führte. Seit unserem Abitur hatte ich ihn nicht wiedergesehen, ohne ihn je vermißt zu haben. Nun stand der wieder vor mir, mit dem ich einst Sand in die Ballastsäckchen des Ballonführers Rockezoll geschaufelt hatte. Er sah bedrückt aus. Den schwebenden Ausdruck hatte er verloren.
»Du willst verreisen?« fragte er, während ich helle Sommersachen im Koffer verstaute.
»Ja, nach Sizilien. Taormina.«
»Du Glücklicher!« Sein Ausdruck wurde noch bekümmerter.
»Ich reise zwar ununterbrochen mit meiner Bühne herum, zwischen Berchtesgaden und Feldkirch, von Amorbach bis Tirschenreuth. Aber es macht mir keine Freude mehr.«
»Ich hab' gehört, daß du Schauspieler geworden bist. Hätt' ich nie von dir gedacht«, sagte ich. »Was spielst du eigentlich?«
»Jugendliche Komiker.«
»Komisch!«
Ich hatte Andreas nie für komisch und kaum je für sonderlich jugendlich gehalten.
»Bisher hat's mir Spaß gemacht. Aber seit wir jetzt auch hier in Bayern die neue Regierung haben« – die bayerische ›Machtübernahme‹ hatte erst im März dieses Jahres 1933 stattgefunden –, »seitdem ist es bei uns gräßlich. Ein schlechter Chargenspieler will unsern anständigen Intendanten rausdrücken und sich selbst zum Chef machen. Mich kann er nicht leiden. Er sagt, wir gehörten alle an die Wand gestellt.«
»Ach, Andreas« – nun kriegte ich doch Mitleid mit dem alten Klassenkameraden –, »laß dir doch von diesen Windmachern nicht bange machen. Dieser ganze Ticheszauber dauert höchstens ein paar Monate.«
»Meinst du wirklich?« Das Gesicht des Gasdirektorsohnes hellte sich auf und bekam wieder etwas von seinem alten gasgefüllten Ausdruck. »Deshalb bin ich ja zu dir gekommen. Ich dachte, ihr von der Presse wißt doch ein bißchen mehr.«
Dieses Zutrauen tat meinem jungen Redakteursbewußtsein sehr wohl, und ich erzählte ihm einiges, was ich selbst nicht ganz zu glauben wagte. Ich brachte Argumente über die politische und moralische Reife des deutschen Volkes, das sich in einem Augenblick, in dem erste Anzeichen einer wirtschaftlichen Besserung erkennbar würden, nicht von Abenteurern in eine ungewisse Zukunft locken ließe.
»Und außerdem« – jetzt spielte ich meinen stärksten Trumpf aus – »wird das Ausland die Tiches und Genossen nie anerkennen!«
»Ach, das freut mich aber!« sagte Andreas, beinahe kindlich dankbar. »Bei uns gibt's nämlich Kollegen, die auch dagegen sind und die trotzdem meinen, der Spuk könnte Jahre dauern. Du hast mich richtig beruhigt.«
»Na, das ist fein, Andreas. Dann spiel mal schön komisch weiter, bis diese komischen Figuren wieder abgetreten sind.«
»Ich hatte nämlich schon Angst, ich müßte bei Tiches antichambrieren. Der soll jetzt auch für kulturelle Dinge zuständig sein, für die Hochschulen und die Presse, und ich glaube sogar fürs Theater.«
Diese Nachricht war mir selbst neu. Aber in diesem Augenblick war sie mir herzlich gleichgültig. Ich hatte Urlaub, heute nacht würde mein D-Zug über den Brenner fahren, und morgen sollte ich in Verona meine Wera treffen. Ich hielt Andreas nicht auf, als er sich bald verabschiedete. Vielleicht tat ich ihm unrecht, aber er kam mir immer noch ein bißchen
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