Wirbelsturm
nicht. Der Druck der Tausende hinter ihnen schob sie unaufhaltsam weiter. »Warum sind diese Männer so zornig?« fragte Scharazad. Ihre gute Stimmung war wie weggeblasen. Der Druck von hinten nahm zu.
»Es sind einfach irregeführte Menschen, vorwiegend aus den umliegenden Dörfern«, antwortete Namjeh Lengehi tapfer. »Sie wollen Sklaven aus uns machen. Habt keine Angst! Allah ist groß …«
»Hängt euch ein!« rief Zarah. »Sie können uns nicht aufhalten! Allah-u Akbar …«
Unter den Männern, die die Straße blockierten, war auch der, der im Evin-Gefängnis Jared Bakravan zur Schlachtbank geführt hatte. Er erkannte Scharazad in einer der vorderen Reihen. »Allah ist groß«, murmelte er verzückt. »Allah hat mich zum Werkzeug erkoren, diesen verfluchten Bazaari zur Hölle zu schicken, und nun hat Allah seine Hure von Tochter in meine Hand gegeben!«
Er zog sein Messer und stürmte auf sie los, durchquerte wie rasend den Raum, der ihn von den Frauen trennte, stieß dabei einige zu Boden, streckte den Arm nach ihr aus … rutschte aus und stürzte.
Ungerührt vom Kreischen derer, die er verwundet hatte, kämpfte er sich hoch, sah nur sie, ihre weit aufgerissenen, schreckerfüllten Augen, das Messer in seiner Faust, bereit, es ihr in den Leib zu rennen, noch drei Schritte von ihr entfernt, noch zwei, noch einen … Sein Kopf war umwölkt von ihrem Parfüm, dem Gestank der leibhaftigen Satansbraut. Er setzte zum Todesstoß an, konnte ihn aber nicht ausführen und wußte, daß der Teufel ihm einen bösen Geist in den Weg gestellt hatte. Er verspürte ein entsetzliches Brennen in der Brust, seine Augen erloschen, und er starb mit dem Namen Allahs auf den Lippen.
Scharazad starrte auf die leblose Gestalt zu ihren Füßen. Die Pistole in der Hand, stand Ibrahim neben ihr. Geschrei und Gekreisch und ein Wutgebrüll von Tausenden von Frauen, die hinter ihnen nachdrängten. »Mit Allah voran!« rief Lengehi, um ihre eigene Angst zu betäuben, und Ibrahim zupfte Scharazad am Ärmel: »Haben Sie keine Angst! Mit Allah voran!«
Sie sah seine Zuversicht und verwechselte ihn einen Augenblick lang mit ihrem Vetter Karim, der ihm in Wuchs, Gestalt und Gesicht so ähnlich war. Doch dann wurde ihr bewußt, was eben geschehen war, Entsetzen und Haß überkamen sie, und sie schrie: »Rache für meinen Vater! Nieder mit den Fanatikern und hezbollahis! Nieder mit den Mördern!« Sie packte Zarah. »Komm! Los!« Sie hakte sich bei ihr und Ibrahim, ihrem Retter, ein, und sie zogen weiter.
Schreiend kam wieder ein Mann mit einem Messer auf sie zu. »Allah ist groß!« rief Scharazad, und die anderen stürmten ihr nach, aber noch bevor er gebändigt werden konnte, hatte der Mann Namjeh Lengehis Arm aufgeschlitzt. Unaufhaltsam drängten die ersten Reihen vorwärts. Beide Seiten brüllten: »Allah ist groß!«, beide Seiten überzeugt, daß sie im Recht waren. Dann brach die Front der Gegner auseinander.
»Laßt sie marschieren!« brüllte ein Mann. »Auch unsere Frauen sind dabei … es sind zu viele … zu viele …« Die Männer wichen zurück, und der Weg war wieder frei. Ein Triumphgeheul unter den Demonstrantinnen. »Allah-u Akbar . Allah ist mit uns, Schwestern!«
»Vorwärts!« feuerte Scharazad die Frauen an, und sie marschierten weiter. Nun kehrte wieder Ordnung unter den Demonstrantinnen ein. Niemand hielt sie mehr auf, obwohl viele Männer sie von den Gehsteigen aus mürrisch beobachteten.
»Es ist ein Erfolg«, erklärte Namjeh Lengehi mit schwacher Stimme. Mit einem Tuch stillte sie das Blut aus ihrer Armwunde. »Wir haben uns durchgesetzt. Selbst der Ayatollah wird unsere Entschlossenheit zur Kenntnis nehmen müssen. Jetzt können wir heimgehen, zu unseren Männern und Familien. Wir haben getan, was wir tun wollten; jetzt können wir wieder heimgehen.«
»Nein«, widersprach Scharazad. Ihr Gesicht war blaß und von Schmutzflecken bedeckt; noch hatte sie ihre Angst nicht überwunden. »Wir müssen auch morgen und übermorgen und überübermorgen weitermarschieren – so lange, bis der Imam öffentlich erklärt, daß uns kein Tschador aufgezwungen wird und unsere Rechte gewahrt bleiben.«
»Ja«, stimmte Ibrahim ihr zu. »Wenn ihr jetzt aufhört, werden euch die Mullahs zerschmettern.«
»Sie haben recht, Agha. Wie kann ich Ihnen nur dafür danken, daß Sie mich gerettet haben?«
»Ja«, sagte Zarah, die sich immer noch nicht gefaßt hatte. »Wir müssen auch weiterhin marschieren, weil … weil uns
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