Wirbelsturm
Schenkel und Beine massieren konnte.
»Oh, das tut so gut«, wiederholte Azadeh. Wieviel schöner das hier war als in ihrer kleinen Sauna: die aggressive, kräftige Hitze und dann das abrupte Eintauchen im Schnee, ein eisig brennendes Gefühl, lebenspendend, aber nicht so schön wie die Sinnlichkeit des duftenden Wassers, Ruhe und Muße. Oh, das tut so gut … Aber warum ist das Badehaus mit einemmal der Dorfplatz, und jetzt ist es so kalt, und da sind der Fleischer und der falsche Mullah … »Zuerst deine rechte Hand … steinigt die Hure!« Lautlos schrie sie auf.
»Habe ich Ihnen wehgetan, Gnädigste? Es tut mir so leid!«
»Nein, nein, Mina, das warst nicht du. Bitte, mach weiter!« Wieder die wohltuenden Finger, und Azadehs Herz beruhigte sich. Ich hoffe, ich werde bald wieder gut schlafen können – ohne das Dorf. Es war schon ein bißchen besser gewesen heute nacht mit Erikki, in seinen Armen, in seiner Nähe. Wie es Johnny wohl gehen mag? Er dürfte auf dem Heimweg sein oder schon daheim, in Nepal auf Urlaub. Jetzt, da Erikki zurück ist, fühle ich mich wieder sicher, aber nicht, wenn ich allein bin … Nicht einmal bei Hakim fühle ich mich sicher. Ich fühle mich überhaupt nicht mehr sicher.
Die Tür ging auf, und Ayscha trat ein. Ihr Gesicht war gramzerfurcht, ihr Blick angsterfüllt. Der schwarze Tschador ließ sie noch hagerer erscheinen. »Guten Abend, liebe Ayscha. Was ist denn los?«
»Ich weiß es nicht. Die Welt ist so sonderbar, und ich habe keine … ich weiß nicht, woran ich mich halten soll.«
»Komm ins Bad!« sagte Azadeh, denn Ayscha tat ihr leid. Sie sah so dünn, so alt, zerbrechlich und wehrlos aus. Kaum zu glauben, daß meines Vaters Witwe erst 17 Jahre alt ist. »Komm ins Wasser, es ist so angenehm!«
»Nein, nein, danke. Ich … ich wollte nur mit dir reden.« Ayscha sah Mina an, senkte den Blick und wartete. Noch vor zwei Tagen hätte sie einfach nach Azadeh geschickt, und Azadeh wäre sofort gekommen, hätte sich verbeugt, sich niedergekniet und auf Befehle gewartet, so wie sie jetzt als Bittstellerin vor ihr stand. Wie es Allah gefällt, dachte sie. Wenn nicht die Sorge um die Zukunft meiner Kinder wäre, ich würde vor Freude jauchzen: nie wieder dieser Gestank und das nervtötende Schnarchen, nie wieder diese erdrückende Last, das Stöhnen, die Wut, das Beißen, das verzweifelte Bemühen, das zu erreichen, was er nur mehr selten erreichen konnte. »Es ist deine Schuld, deine Schuld, deine Schuld …« Wieso meine Schuld? Wie oft habe ich ihn gebeten, mir zu zeigen, was ich tun könnte, ihm zu helfen. Und ich habe es versucht und versucht und versucht, und doch geschah es nur selten. Dann war endlich die Last von mir genommen, das Schnarchen begann, und ich lag wach in Schweiß und Gestank. Wie oft wünschte ich mir, sterben zu dürfen! »Mina, laß uns allein, bis ich dich rufe«, bat Azadeh. Die Zofe gehorchte unverzüglich. »Was ist denn los, liebe Ayscha?«
Die junge Frau zitterte. »Ich habe Angst, Angst um meinen Sohn, und ich bin gekommen, dich zu bitten, ihn zu beschützen.«
»Du hast von Hakim Khan und mir nichts zu befürchten«, entgegnete Azadeh. »Nichts. Wir haben bei Allah geschworen, für dich und deine Kinder liebend zu sorgen. Du hast es selbst gehört. Wir haben es vor deinem Mann, unserem Vater, geschworen, und dann noch einmal nach seinem Tod. Du hast nichts zu befürchten, absolut nichts.«
»Ich habe alles zu befürchten«, stammelte das Mädchen. »Ich bin nicht mehr sicher, und auch mein Sohn ist es nicht mehr. Bitte, Azadeh, könnte … könnte Hakim Khan nicht … Ich würde alles unterschreiben, auf alle meine Rechte verzichten. Ich möchte nur in Frieden leben, und auch mein Sohn soll in Frieden aufwachsen und leben.«
»Wir leben hier alle zusammen, Ayscha. Bald wirst du sehen, wie glücklich wir alle zusammen sein werden«, versuchte Azadeh sie zu beruhigen. Verständlich, daß sie Angst hat, dachte sie. Niemals wird Hakim den Khan-Titel abgeben, wenn er eigene Söhne hat. Er muß jetzt heiraten, und ich muß ihm helfen, eine gute Frau zu finden. »Mach dir keine Sorgen, Ayscha!«
»Keine Sorgen? Du bist jetzt in Sicherheit, Azadeh; noch vor wenigen Tagen hast du in Angst gelebt. Jetzt bin ich nicht mehr in Sicherheit und lebe in Angst.«
Azadeh musterte sie. Was konnte sie für sie tun? Ayschas Leben war festgelegt. Sie war die Witwe eines Khans und mußte bewacht und beaufsichtigt im Palast bleiben und ihr Leben, so gut
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