Wirrnis des Herzens
heute, in unseren modernen Zeiten.«
Vorsichtig ließ Lord Beecham Helen wieder herunter und küsste sie auf den Mund. Dann wandte er sich erneut der Schrift zu.
Einen Moment lang sah Helen ihn an, dann wandte auch sie ihre Aufmerksamkeit wieder dem Buch zu. Selbstvergessen murmelnd strich Lord Beecham mit der Fingerkuppe über die seltsamen Zeilen.
»Was denken Sie, werden Sie es schaffen, die Schrift zu übersetzen?«
»Ich werde mein Allerbestes geben. Aber es wird schwierig, sehr schwierig. Pehlewi benutzt die Schriftbilder aramäischer Worte, tun Pehlewi-Worte völlig anderer Bedeutung auszudrücken. Nehmen wir zum Beispiel unser Wort >König<. In Pehlewi ist es Shaw, geschrieben wird es aber genau wie das aramäische Wort Malka, was so viel wie >Gewässer< heißt. Man muss also das aramäische Wort lesen und es sogleich in Pehlewi übersetzen. Es wird ein einziges Hin und Her geben. Aber ich werde es schaffen, Helen. Geben Sie mir nur etwas Zeit.«
Von einem bis zum anderen Ohr grinsend, blickte Lord Beecham Helen an. »Was ist los?«
»Was, wenn die Lederrolle gar nichts mit der Öllampe zu tun hat?«
»Kommen Sie, Helen, Sie haben doch die ganze Zeit gewusst, dass es nur eine entfernte Möglichkeit ist. Aber geben Sie jetzt bloß nicht auf. Fakt ist doch, dass wir wissen, dass die Lampe aus dem Heiligen Land stammt. Wir sind, grob betrachtet, in dem gleichen geographischen Gebiet. Und was auch immer der Inhalt der Lederrolle ist, sie ist ein spektakulärer Fund, und Sie, Helen, sind diejenige, die sie entdeckt hat. Wenn die Nachricht sich schließlich verbreitet, werden Wissenschaftler aus ganz Europa hierher kommen, nur um den Text wenigstens ein einziges Mal sehen zu dürfen.« Lord Beecham rieb sich die Hände und klopfte Helen anerkennend auf die Schulter.
»Wer aber vergräbt eine Pehlewi-Schriftrolle in einem eisernen Kästchen an der Ostküste Englands? Wenn die Rolle mit den Römern hierher kam, warum ist sie dann nicht in Lateinisch verfasst?«
»Ich weiß es nicht, Helen. Aber wir finden das heraus, keine Sorge. Ihr Partner ist ein patenter Mann.«
Die nächsten zwei Stunden verbrachten sie damit, noch weitere Manuskripte über Pehlewi zu suchen. »So«, sagte Lord Beecham schließlich und wischte sich die staubigen Hände an seiner Reithose ab. »Wir haben jetzt drei Quellen. Das ist mehr, als ich erwartet hätte.«
Als sie das reizende kleine Pfarrhaus mit dem zauberhaft verwilderten Garten verließen, war es schon später Nachmittag. Pfarrer Gilliam trank gerade mit drei Damen Tee.
»Der arme Mann«, raunte Helen. »Er wird gnadenlos gejagt. Der Tod seiner lieben Frau ist erst dreizehn Monate her. Es war etwa zur gleichen Zeit, als sein Bruder, also Ihr Mentor, in Oxford starb.«
»Glauben Sie nicht, dass Pfarrer Gilliam sich ganz gut amüsiert?«
Als Lord Prith Lord Beecham an diesem Abend nach dem Essen zum Kartenspiel aufforderte, wiegelte Helen sofort ab: »Lord Beecham ist mein Partner, Vater. Ich brauche ihn noch.«
»Ich verstehe«, sagte Baron Prith. »Er hilft dir bei der Sache mit dieser Öllampe. Aber, Nell, er ist ein ganz wunderbarer Verlierer.«
»Sobald ich ihn nicht mehr brauche, kannst du ihm ja meinetwegen das Geld aus der Tasche ziehen, Vater, aber nicht heute.«
»Ha«, sagte Lord Beecham und folgte Helen beschwingt in ihr Studierzimmer. Er konnte es gar nicht abwarten, endlich mit der Übersetzung zu beginnen. Als sie von Dereham zurückgekommen waren, hatten sie sich sogleich für das Abendessen umziehen müssen. Dennoch schafften sie es, sich vorher noch schnell zu vergewissern, dass das Manuskript tatsächlich in Pehlewi geschrieben war.
Gegen elf Uhr verließ Helen Lord Beecham, der in das Manuskript versunken dasaß, ab und zu etwas notierte, manchmal summte und dann wieder fluchte. Sie fragte sich, ob er ihr Gehen überhaupt bemerkte.
Helen schlief sofort ein und träumte davon, so fest eine Öllampe an sich gedrückt zu halten, dass sie kaum mehr atmen konnte. Dann geschah ein Wunder. Die Lampe verwandelte sich in einen Mann, der sie lächelnd streichelte. Es war Spenser.
Helen saß aufrecht im Bett und rang nach Luft. Da war es wieder. Wie eine warme Woge flutete die Erinnerung durch ihren Körper. Jedes Detail des besagten Nachmittages stand ihr plötzlich klar und erregend vor Augen. Leise stand sie auf.
Es war ein Uhr nachts. Barfuß schlich Helen in ihr Studierzimmer und fand Lord Beecham schlafend am Schreibtisch, seinen Kopf keine drei
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