Wo bitte geht's nach Domodossola
denn seit Genf plagte mich die Sorge, mir könnte allmählich die Lust am Reisen vergehen, und ich würde von nun an meine Zeit nur noch durch Museen und über kopfsteingepflasterte Straßen schlurfend verbringen. Aber, nein, ich war wieder frisch und munter, als hätte man mir eine doppelte Dosis Vitamine verabreicht. Bern wurde auf einem Felsvorsprung über einer breiten Schleife des Flußes Aare erbaut. Der Blick von den Brücken und Aussichtspunkten ist einfach herrlich, vor allem auf die orangefarbenen Ziegeldächer der Altstadt und ihre Kirchtürme und Türmchen, die wie mutierte Kuckucksuhren aussehen. In den meisten Straßen ragen die oberen Stockwerke der Häuser über die Gehsteige und werden von dicken Pfeilern abgestützt, so daß man fortwährend unter Arkaden wandelt. Die Geschäfte entlang dieser Gassen waren viel interessanter und noch exklusiver als die in Genf. Hier gab es Antiquariate, Kunstgalerien und Antiquitätenläden, die sich auf alles Erdenkliche, von aufziehbarem Spielzeug bis zu Uhren, Ferngläsern und etruskischen Keramiken, spezialisiert hatten.
In kultureller Hinsicht liegt Bern genau auf der Grenze zwischen der französisch und der deutschsprachigen Schweiz, was eine etwas exotische Mischung hervorgebracht hat. So begrüßt einen der Kellner im Restaurant mit »Bitte«, bedankt sich aber mit »Merci«. Die Architektur ist eindeutig deutschen Ursprungs. Die strengen (aber nicht bedrückenden) Sandsteinhäuser erwecken den Eindruck, als wären sie gebaut, um tausend Erdbeben standzuhalten. Bern wirkt wie ein geschäftiges Marktstädtchen in der Provinz. Man würde nie auf die Idee kommen, daß man sich in der Hauptstadt eines Landes befindet. Das liegt zum Teil an der eigenartigen politischen Struktur der Schweiz. Die Kantone sind mit so viel Macht ausgestattet, daß man in diesem Land sogar einen Ministerpräsidenten für entbehrlich hält. Das Amt hat lediglich symbolische und repräsentative Funktionen und wird jährlich neu besetzt. Würden sie nicht jemanden brauchen, der am Flughafen die ausländischen Staatsoberhäupter in Empfang nimmt, hätten die Schweizer wohl überhaupt keinen Präsidenten. Das Bundeshaus, der Sitz des Parlaments, sieht aus wie ein kleinstädtisches Rathaus, und nirgends in der Stadt – nicht einmal in den Cafés in unmittelbarer Nähe des Bundeshauses – ist die Gegenwart von Bürokraten und Politikern spürbar.
Anderthalb Tage wanderte ich durch die Straßen der Altstadt und durch die moderneren und dennoch schönen Wohnviertel an der anderen Seite der Aare. Bern eignete sich bestens für ziellose Streifzüge. Es gab keine Schnellstraßen, keine Industrieanlagen, keine sterilen Grünflächen, nur endlose Boulevards, gesäumt von hübschen Häusern und kleinen Parks. Mit den touristischen Attraktionen Berns hatte ich Pech. Einmal überquerte ich die hohe gewölbte Nydeggbrücke, um mir die berühmten Bärengehege anzusehen (der Name der Stadt ist vom deutschen Wort Bär abgeleitet, daher haben die Berner bis heute eine Vorliebe für diese Tiere), aber die Gehege waren leer, und kein Schild erklärte, warum. Die Einheimischen, die mit ihren Kindern hierher gekommen waren, waren offensichtlich ebenso verblüfft wie ich.
Dann versuchte ich es mit dem Albert Einstein Museum in Einsteins ehemaliger Wohnung in der Kramgasse. Ich lief die Bogengänge der Straße wohl sechsmal rauf und runter, bis ich den unscheinbaren Eingang des Hauses endlich zwischen einem Restaurant und einer Boutique entdeckte. Die Tür war verschlossen und verstaubt, als hätte sie seit Wochen, vielleicht seit Jahren niemand mehr geöffnet. Ich klingelte, aber nichts rührte sich. Es kam mir komisch vor, daß ich in ganz Bern nirgends auf einen Hinweis gestoßen war, daß Einstein jemals in dieser Stadt gelebt hat: kein Denkmal, keine Straße, die seinen Namen trug, nicht einmal sein freundliches Gesicht auf einer Postkarte. An der Wand verkündete lediglich eine Tafel, daß Einstein im Jahre 1905, während er als kleiner Angestellter beim schweizerischen Patentamt arbeitete und über dieser Tür wohnte, vier Abhandlungen verfaßt hat, die die Welt der Physik grundlegend verändert haben: die Theorie der Brownschen Bewegung, die Relativitätstheorie, die Hypothese der Lichtquanten und den Beweis für die Äquivalenz von Masse und Energie. Natürlich habe ich keine Ahnung, was sich hinter diesen großen Worten verbirgt (ich verstehe nicht einmal, warum nicht ständig Strom aus einer
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