Wo Dein Herz Zu Hause Ist
nicht einmal mehr erinnern, wie man die Worte Freizeit und Erholung schrieb. Ein paarmal hatte sie George gegenüber zur Sprache gebracht, dass sie gerne aufhören würde zu arbeiten, doch er hatte steif und fest behauptet, dass sie sich das nicht leisten konnten. Dann hatte sie bei ihrem Chef wegen einer Teilzeitstelle angeklopft, doch er war nicht davon abgewichen, dass sieVollzeit und zwar eher noch mit Überstunden gebraucht würde. Also versuchte sie die Büroarbeit und Hausarbeit unter einen Hut zu kriegen, befand sich chronisch am Rand der Erschöpfung und hatte trotzdem das Gefühl, sich ständig nur dafür entschuldigen zu müssen, dass sie sich nicht zweiteilen konnte. Es kam ihr vor, als sei sie in eine niemals stillstehende Tretmühle geraten, die sie keinen Schritt vorwärts brachte.
Ich bin ja so unglaublich müde.
Kurz vor neun Uhr abends waren schließlich die Kinder ins Bett gebracht, und Melissa hatte endlich Zeit, eine Pause zu machen, sich hinzusetzen und Harri anzurufen.
«Hallo», eröffnete sie völlig fertig das Gespräch.
«Auch hallo.»
«Bei dir alles in Ordnung?», fragte Melissa, und ihre Betonung ließ darauf schließen, dass bei ihr selbst durchaus nicht alles in Ordnung war.
«Ich kann den Montag kaum abwarten!», sagte Harri leichthin, als wäre die Sache mit diesem ominösen Geheimnis nur ein Scherz. Doch damit führte sie niemanden hinters Licht.
«Ich weiß auch nicht, was ich davon halten soll. Ich wollte mich aber noch entschuldigen, dass ich mich gestern einfach nur betrunken habe.»
«Das hattest du wahrscheinlich mal nötig», sagte Harri, die wusste, wie Melissas Leben zurzeit lief.
«Kann man wohl sagen.»
«Und wie geht’s dir jetzt?»
«Ich würde am liebsten heulen.» Melissa lachte trotz allem ein bisschen.
«Wir geben ja ein schönes Paar ab.»
«Da hast du recht.»
«Melissa?»
«Ja?»
«Wir schaffen das schon, okay?»
«Ja, tun wir.»
«Versprochen?»
«Versprochen.»
Danach unterhielten sie sich über ein Buch, mit dem sich Harri hatte ablenken wollen, über eine Fernsehshow, die Melissa vor kurzem gesehen hatte, und über ein Lied, das eine Kollegin in Melissas Büro gesummt hatte – es ging ungefähr la la la la la la la la. Harri behauptete, sie würde es erkennen, wüsste aber gerade den Titel nicht, und Melissa erklärte, sie würde demnächst wahnsinnig, weil ihr der Titel auf der Zunge lag, sie aber trotzdem nicht darauf kam und sie deshalb selbst die ganze Zeit zwanghaft diese Melodie summte.
«Frag sie doch einfach», sagte Harri.
«Dann hält sie mich für total übergeschnappt.»
«Sie ist schließlich die Summerin.»
«Genau, sie ist die Summerin.»
«Außerdem sind Summer bekanntermaßen selbst psychisch instabile Menschen», sagte Harri. Sie hatte zwar keinerlei Belege für diese Aussage, vertraute jedoch darauf, dass ihre Freundin zu müde war, um das mitzubekommen.
«Du hast recht. Ich frag sie einfach.»
«Allerdings seht ihr euch erst am Montag im Büro wieder.»
«Oh nein. Mir bleibt auch nichts erspart!», stöhnte Melissa, als ihr klar wurde, dass sie noch über das ganze Wochenende von diesem Ohrwurm gequält werden würde.
Es war kurz vor elf Uhr vormittags. Im Krankenhaus war ziemlich viel los. Harri zog eine Nummer und setzte sich mit Beth in eine ruhigere Ecke des Wartebereichs. Beth war schweigsam und steckte ihre Nase tief in eine Modezeitschrift. Harri nahm sich eine
Time
. Neben Beth saß eine Frau in einem Business-Anzug. Beth schnitt eine Grimasse, doch Harri tat so, als hätte sie nichts davon bemerkt. Dann stand die Frau auf und verschwand den Flur hinunter, vermutlich in Richtung der Cafeteria.
«Ich frage mich, was sie hat», flüsterte Beth hinter ihrer Zeitschrift.
«Keine Ahnung», flüsterte Harri zurück.
«Hoffentlich ist es nichts Ansteckendes.» Beth zog wieder ein Gesicht.
«Du meinst wie Filzläuse?»
«Autsch!»
«Ich wollte dich nur daran erinnern, dass du wohl nicht in der Position bist, über andere herzuziehen.»
«Du hast recht. Ihr Anzug war übrigens super.»
Die Zeit verging. Harri las einen Artikel über Umweltverschmutzung. Beth sah sich die neueste Schuhmode an. Sie hielt sich die Zeitschrift immer noch vor das halbe Gesicht, als sie sagte: «Du, Harri?»
«Hmm-mm?»
«Glaubst du, ich komme zu einem weiblichen Arzt?»
«Das weiß ich nicht.»
«Ich möchte nicht zu einem Mann.»
«Es wird schon gutgehen.»
«Meinst du, ich muss etwas ausziehen?»
«Ich bin nicht
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