Wo der Elch begraben liegt
Mittelohrentzündung und schreit die ganze Zeit. Man kann gar nicht richtig schlafen, wenn sie die ganze Zeit nur weint.«
» Wo sind die denn jetzt?«
» In einem Häuschen. Da in der Nähe waren wir früher schon mal.«
» Und wo war das?«
» Beim größten Einkaufszentrum der Welt.«
» In Schweden?«
» Ja, im Wald«, sagte Aliana.
» Meinst du Ullared?«
» Ja, genau so heißt das! Da sind wir schon oft gewesen.«
» Zum Einkaufen?«
» Nein, was bist du dumm! Zum Arbeiten.«
Frida versuchte, die Informationen zu verdauen. Die Familie musste doch einen festen Punkt haben, eine Adresse irgendwo, Verwandte, Freunde, irgendeinen Hintergrund.
» Wo wohnt ihr eigentlich?«, fragte sie.
» Eigentlich nirgendwo.«
» Aber irgendwann müsst ihr doch mal irgendwo gewohnt haben?«
» Ja, schon… wir haben bei Papas Cousin in Bergsjön in Göteborg gewohnt. Aber da gab es nur drei Zimmer, und seine Familie bestand schon aus acht Personen. Wir wohnten zu fünft in einem Zimmer. Überall Matratzen. Später gab es dann neue Vorschriften, dass man nicht mit so vielen zusammenwohnen durfte. Im Treppenhaus hingen Zettel. Jemand, dem das Haus gehörte, klopfte an die Tür und zählte nach. Da haben sich Papa und sein Cousin gestritten. Er wollte uns nicht mehr haben. Wir hatten keinen Platz zum Schlafen. Papa nahm die Matratzen mit, damit wir auf dem Schrottplatz schlafen konnten, wo er gearbeitet hat. Doch als sie uns entdeckt haben, wurden sie wütend, und Papa musste gehen.«
» Und was habt ihr dann gemacht? Ihr konntet doch nirgendwohin.«
» Keinen Platz zum Schlafen und keine Arbeit für Papa. Da haben wir dann angefangen herumzuziehen.«
» Habt ihr solche Sachen schon gemacht, als ihr noch in Göteborg gewohnt habt?«
» Nein. Man darf so was ja eigentlich nicht machen. Aber Papa sagt: Not kennt kein Gebot.«
Frida lehnte sich auf der unbequemen Plastikbank zurück und versuchte, ihre Gedanken zu ordnen. Der Kaffee war ausgetrunken, Alianas Glas war leer.
» Glaubst du, dass du zu dem Häuschen zurückfindest?«
» Wenn man auf die Straße kommt, sieht man ein paar Gärten und einen Stall und ein Schild, und dann fährt man nach rechts und immer geradeaus«, sagte Aliana, als ob es sich um die klarste Wegbeschreibung der Welt handelte.
Während sie in der Februardämmerung über die E6 nordwärts fuhren, überlegte Frida, welche Alternativen ihr zur Verfügung standen. Sollte sie nach Hause zu Mona fahren und Aliana dort abliefern? Nein, das würde nicht funktionieren. Mona gehörte nicht zu den Menschen, die sofort einsprangen, wenn man Hilfe brauchte. Alles, was aus ihrem Blickwinkel uneigennützig war, schien sie im Grunde auch nicht zu interessieren. Vielleicht Cilla? Nein, das war natürlich unmöglich. Vielleicht konnte sie Cillas Schwester aus der Wohnung in Strömmensberg werfen und ganz einfach verlangen, sie zurückzubekommen? Allerdings klang ein Konflikt mit einem unter Depressionen leidenden Menschen nach einer noch schlechteren Idee.
Doch bloß planlos herumzufahren und nach einem Haus in Ullared zu suchen, war auch eine ziemlich gewagte Strategie. Vielleicht sollten sie sich ein Motelzimmer nehmen und über eine bessere Lösung nachdenken? Wie konnte sie im Übrigen sicher sein, dass Aliana die Wahrheit sagte? Vielleicht hatte sie alles erfunden? Im schlimmsten Fall könnte Frida womöglich wegen Kindesraubs oder eigenmächtiger Vorgehensweise belangt werden, nachdem sie Aliana nicht der Polizei oder den Sozialbehörden übergeben hatte. Peter hätte gewusst, was zu tun wäre. Frida überlegte, was er wohl gesagt hätte. Sie warf einen Blick auf das Mädchen auf dem Beifahrersitz. Sie war mit ketchupverschmiertem Mund eingeschlafen; die Mütze war verrutscht. Wie klein und dünn sie war. Wie viel Angst sie gehabt haben musste. Jetzt atmete sie tief und entspannt, und ein dünner Speichelfaden rann aus dem kleinen Kindermund.
Was hätte Peter getan? Ein glasklarer Gedanke fuhr durch ihren Kopf: Er hätte eine Story daraus gemacht. Peter hätte die zu Tränen rührende, ergreifende und spektakuläre Geschichte von dem neunjährigen Mädchen, das von seinem Vater und seinen Brüdern gezwungen wurde, an den Klauereien der Familie teilzunehmen, ganz klar zum Anlass genommen, einen weiteren fetten Artikel in der Zeitung zu veröffentlichen, mit Verfasserzeile und allen Schikanen. Er hätte den Wohltäter und Wahrheitssucher gespielt, Folgeartikel über den Weg der Taschendiebfamilie
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