Wo der Tod begraben liegt (German Edition)
vorstellen, der 15 Jahre lang Stammgast meiner Kneipe war und, wie sich ein Soziologie-Professor sicher ist, als klügster Hausmeister Deutschlands in die Geschichte eingehen wird.“
Jemand hob den Finger, ging einen Schritt auf Manfred zu und sagte: „Manfred, da haben wir was gemeinsam. Ich bin nämlich der klügste Hartz IV-Empfänger Deutschlands. Ich...“
„Bitte keine Übertreibungen, mein Wertester“, fuhr ihm der Schachspieler dazwischen. „In dem Bereich ist die Konkurrenz wesentlich größer. Man denke nur an mich.“
Lachen und freundliche Mienen überall. Es folgten noch viele weitere Dialoge, die von der Lust zum Schabernack getragen waren. Irgendwann verschwand Manfred mit Aaron in dessen Wohnung. Gerade wollte Manfred ins Wohnzimmer eintreten, da fragte Aaron: „Ziehst du die Schuhe aus?“
„Ja, natürlich.“ Manfred musste daran denken, dass Aaron früher selten gelöst gewirkt hatte, meistens nur in Connys Gegenwart.
„Dir geht es gut, Manfred?“ Postwendend korrigierte sich Aaron: „Den Umständen entsprechend, meine ich. Ich hatte ja schon gehört, dass du krank...“
„Mir geht es sogar ziemlich gut“, kürzte Manfred ab. „Seit ich mich auf Tour begeben habe, spielt mein Seelenleben nicht mehr verrückt.“
Die beiden plauderten eine ganze Zeit über dies und das. Aaron wohnte schon viele Jahre hier. Die Kneipe hatte ihn finanziell gerade mal über Wasser halten können und die Sozialrente ließ keine andere Wohnung zu. Aber aus der Not hatte Aaron längst eine Tugend gemacht und mit ihm ein Dutzend anderer Menschen unterschiedlichsten Alters. Die Wohnungseigentümer, eine öffentliche Genossenschaft, fand das Engagement der Mieter gut und unterstützte sie, so gut es ging, eine Tatsache, die Manfred mit „Toll“ kommentierte.
„Ich will hier sterben. Meine Urne mit der Asche wird im Flur am Fernseher baumeln.“
Es gibt Ideen, die verdienen es, kopiert zu werden, dachte Manfred.
„Ich liebe die Leute hier“, sprach Aaron weiter. Er warf einen Blick auf ein Foto, das alle Bewohner des Obergeschosses bei einem gemeinsamen Mahl zeigte, bevor er weitersprach. „So ein Gefühl habe ich nach über fünfzigjähriger Unterbrechung erst hier wieder kennen gelernt.“
Nie, fiel Manfred bei Aarons Äußerung ein, war es zur Sprache gekommen, warum er keine Familie hatte.
„Seit ich hier lebe, pflege ich wieder ein bisschen meinen Glauben. Die Synagoge ist nicht weit und die Polizei passt wegen der rechtsradikalen Umtriebe gut auf sie auf.“
Dass Aaron Jude ist, war in der Kneipe bekannt gewesen. Manfred fragte sich gerade, ob ein Gefühl falsch verstandener Kollektivschuld der Grund dafür war, dass ihn keiner seiner Stammgäste jemals Näheres darüber zu fragen getraut hatte.
„Du hattest deine Eltern im Krieg...“
„Wir waren im KZ. Ich habe überlebt.“
Manfred stand augenblicklich auf, ging hin und her. Er brauchte eine Zeit, bis er sich wieder gefunden hatte. „Aaron, ich frag‘ mich gerade, warum wir nie darüber mit dir geredet haben in...“
„Ich hätte es nicht gewollt. Sonst hätte ich schon mal was angedeutet. Erst hier habe ich angefangen, darüber zu reden.“ Wieder blickte Aaron zum Foto. „So ist es nicht nötig, dass wir beide jetzt darüber sprechen.“
Manfred begriff. „Ich denke, ich sollte dich jetzt auch nicht wegen meiner lächerlichen Schuldgefühle, mit denen ich seit meiner Krankheit zu tun habe, belästigen.“ Auch Aaron hatte am Telefon erfahren gehabt, was Manfred zu seinem Besuch treibt.
„Doch. Erstens bin ich neugierig und zweitens habe ich ein ganz besonderes Verhältnis zur Frage von Schuld.“
„Also gut... Die Sache hat etwas mit Bier zu tun... Hast du übrigens eins da?“
Aaron holte zwei Flaschen, eine war alkoholfrei.
„Wäre vielleicht mal ganz interessant zu erfahren, wie viele Hektoliter Bier ich im Laufe der Jahre bei dir getrunken habe“, redete Manfred sich warm.
„Es gibt deutlich interessanteres“, sagte Aaron und kratzte am Etikett seiner alkoholfreien Flasche.
„Natürlich.“ So richtig locker kann er nicht, verstand Manfred und kam zum Punkt. „Wenn du nachts nach oben in deine Wohnung gegangen bist, um dein Schlafzimmer durchzulüften, dann habe ich mir aus dem Zapfhahn oft noch was nachgeschenkt.“
„Wie viel?“
Er sagte ja, dass er neugierig ist, dachte Manfred. “Wie? Wie viel?“
„Na, ein halbes Glas oder was?“
„Vielleicht etwas weniger. Ich hatte ja noch was im Glas
Weitere Kostenlose Bücher