Wo der Tod begraben liegt (German Edition)
nur bei Feiern. Er lebt in einem Hartz-IV-Viertel im zehnten Geschoss eines Anfang der siebziger Jahren errichteten Hochhauses und guckt, wenn er aus dem Fenster seiner 40-Quadratmeter-Wohnung schaut, ringsum auf lauter andere zehnte Geschosse. Die Polizeiwache wurde neulich aufgestockt.“ Conny fasste sich an den Kopf, bevor sie lachend weiter sprach. „Natürlich nicht auf seinem Hochhaus und nicht wegen Aaron.“
Schade, das hätte den Besuch noch interessanter gemacht, erinnerte sich Manfred an Connys Ausführungen, als er auf dem Hochdeck der betongrauen Garagenanlage vor Aarons Wohnung parkte und aus seinem Auto stieg. Sogleich befürchtete er, dass Connys Gefahrenanalyse sich auf sein infolge der Krankheit wesentlich sensibleres Bedrohungsgefühl auswirken könnte. Und in der Tat: Misstrauisch schaute er sich um. Schnellen Schrittes begab er sich zum Hauseingang. Mit eiferndem Blick suchte er nach Aarons Namensschild. Kräftig und viel zu lange betätigte er den Klingelknopf. Als er endlich den Hausflur der großen Wohnanlage betrat, atmete er tief durch. Er wartete auf den Fahrstuhl, als er sich zusammenriss und murmelte: „Nun mach‘ mal halb lang.“
Manfred fuhr mit dem Aufzug ganz nach oben, von wo aus er noch eine Treppe bis zum zehnten und somit letzten Stockwerk zu gehen hatte. Fast wäre er gegen die Tür gelaufen, die sich ihm ganz ungeahnt am Ende der Treppe entgegenstellte. Manfred schaute ein paar Mal hin und her, bis er verstand, dass der Gemeinschaftsflur aller acht Wohnungen des obersten Stockwerkes mit einer Mauer zum Treppenhaus abgetrennt worden war. Neugierig öffnete er die Tür.
„Hey“, hieß es, sogar zwei Mal.
„Auch hey“, sagte Manfred.
Ein Mann und eine Frau saßen sich an einem ausgeklappten Wandtisch gegenüber und spielten Schach.
„Du musst Manfred sein. Aaron hat vergessen, dass heute seine Fußpflegerin kommt. Du sollst dich solange ein bisschen umschauen. Möchtest du was trinken?“, fragte die Frau.
„Großartig“, sagte Manfred. Er starrte abwechselnd nach links und nach rechts in den Flur hinein.
„Das Getränk haben wir leider nicht“, freute sich der Mann und stand auf. „Ich mache dir einen Kaffee.“
Manfred brauchte noch einen Moment zur Orientierung, dann lächelte er freundlich. „Danke, ja, gern.“ Er staunte von neuem, als er sich umschaute. Diesmal ging er dabei hin und her.
Die Bewohner des Obergeschosses hatten ihren Hausflur zu einem Gemeinschaftsraum umgestaltet und das mit einer Sorgfalt und Gestaltungskraft, von der Manfred augenblicklich beeindruckt war. Der L-förmige Flur war mit kräftigen Holzfliesen ausgelegt, die sowohl der Gemütlichkeit wie der Schalldämmung dienten. Mehrere Klapptische verschiedener Bauart wussten mit Stühlen und kleinen Sesseln den schmalen Gang gut zu nutzen. An einer Wand zog sich eine Theke mit einigen Barhockern lang. Unterhalb des einzigen Fensters waren Regale und Unterschrank für die Getränke befestigt, dabei hatte man auch eine kleine Spüle installiert. Bilder, robuste Grünpflanzen und eine Menge kleiner künstlicher Lichtquellen verfeinerten das Raumerlebnis ebenso wie die verschiedenen dezenten Farbtöne, in denen die Wände gestrichen waren. Zwei Deckenventilatoren, ebenfalls mit Bedacht ausgewählt, taten bei Bedarf ihren Dienst. Am Scheitelpunkt der Flurgänge schaute ein Flachfernseher in beide Flügel hinein, sodass laufende Bilder von allen Stellen gut wahrgenommen werden konnten.
„Es gibt keinen Quadratmeter in dieser Diele, an dem man sich nicht gern aufhält“, meinte Manfred am Ende seiner Begutachtung. Mit der Frage „Wann kann ich hier einziehen?“ schloss er seine Bewunderung ab.
„Wir nehmen nur Leute aus dem Prekariat“, sagte eine Stimme, die Manfred gut kannte. Aaron war aus einer der Wohnungen herausgekommen. Manfred lachte laut, ging auf ihn zu und schüttelte seine Hand. Die folgende Umarmung blieb schüchtern, denn so etwas war nie ein selbstverständlicher Bestandteil ihrer Begrüßung gewesen.
„Wenn Pierre Bourdieu recht hat, dass das Prekariat überall ist, dann werdet ihr keinerlei Nachwuchsprobleme bekommen. Für ihn gehörten tendenziell nämlich auch die Inhaber von Normalarbeitsplätzen dazu, denn...“
„Von Null auf Nichts im analytischen Denken... Wie hatte ich das nach deinem Wegzug in meiner Kneipe vermisst. .. Leute!“, sagte Aaron, dabei drehte er sich im mittlerweile gut gefüllten Flur einmal um seine Achse, „darf ich euch Manfred
Weitere Kostenlose Bücher