Wo der Tod begraben liegt (German Edition)
begrüßt.“ Ilona war am Apparat. Manfred hatte ihr die Nummer seines Hotelzimmers aufs Handy gesimst.
„Möglicherweise ist meine Psyche gerade auf der Suche nach besseren Zeiten und bedient sich dabei alter Sprachgewohnheiten. Aber ansonsten geht es mir gut. Habe Wein und anregende Lektüre. Fehlt eigentlich nur das Weib.“
Ilona schmunzelte. „Mach nach einem Glas Schluss.“
„Mit mir?“, alberte Manfred, um sofort darauf ernst zu werden. „Klar“, sagte er. In Wirklichkeit war er bereits ein Glas weiter. Immer öfter lebte er wieder seinen alten großzügigen Umgang mit Genussmitteln.
Ilona wollte wissen, was sie immer wissen wollte, seit Manfred sich zu seiner Beichttour aufgemacht hatte. Manfred kam ihrer Frage zuvor. „Weiterhin keinerlei Schmerzen, nichts dergleichen, Schatz... Und noch etwas, was dich interessieren könnte, kann ich dir berichten.“
„Na?“
„Ich liebe dich.“
Ilona bestätigte die Aussage ihres Mannes mit gleichlautenden Worten. „Es sind wahrscheinlich die einzigen Worte, die der Mensch immer wieder hören mag, ohne dass ihm langweilig wird.“
„Lass uns noch ein bisschen weiter säuseln, mir ist danach.“
Und so vergingen die nächsten Minuten mit den eingeforderten Liebesbekundungen. Zu dem Ritual des Liebespaares gehörte es, dass irgendwann jemand „es gibt da noch was“, sagte. Ilona blieb diesmal die Äußerung dieses Satzes überlassen, bevor sie augenblicklich zum Thema kam.
„Dein Chef deiner Hausmeisterzeit hat dir geantwortet.“
„Na endlich...“
„Eine Postkarte, kurz und knapp. Schulleiter Peer Stung lehnt jede Unterredung mit dir ab. Und dann schreibt er auch noch, dass er sich jeden weiteren Kontakt verbittet.“
„Hm...“ Manfred hatte auch gegenüber dem aktuellen Rektor des humanistischen Gymnasiums von Neuenkirchburg Schuldgefühle und ihn demensprechend um eine Unterredung gebeten. „Da kann man nichts machen.“
„Vielleicht erzählst du mir ja mal, was du dir gegenüber dem erlaubt hast; muss in dem Fall ja mehr gewesen sein als nur eine Lappalie... Und noch was: Jürgen Angler hat angerufen. Er hat deine Handynummer nicht und lässt ausrichten, dass der Besuch verschoben werden muss. Er meinte, dass du ihn nächste Woche anrufen kannst.“
„Kannst oder sollst?“
„Nach einem gesteigerten Interesse hörte er sich wirklich nicht an.“
„Der drehte sich immer schon nur um sich. ‚Verwegen und verlogen, kämpf‘ ich mich nach oben‘, hat er im Studium gewitzelt.“
„Das hat der ernst gemeint.“
„Stimmt“, murmelte Manfred und dachte daran, dass Jürgen Angler ein kühles Lehramtsstudium hingelegt hatte. Sein Interesse hatte der Aussicht auf drei Monate Urlaub, ein überdurchschnittliches Gehalt und der Pension gegolten. Die Schüler waren ihm egal.
„Lass das mit dem Kerl, Manfred. Der verdient dein Seelenleben nicht.“
Manfred wechselte das Thema. „Dann habe ich morgen eine längere Autofahrt vor mir. Hermine Seligen wohnt mittlerweile in Navis, ein kleiner Ort am Brenner.“
„Italien?“
Manfred antwortete nicht sofort.
„Fast.“
*
„Was ist das alles lange her“, tuschelte Manfred, als er sich die wichtigsten Gegebenheiten, die er mit dem heutigen Besuch von Hermine Seligen im südösterreichischen Navistal in Verbindung brachte, in Erinnerung rief: Hermine Seligen war die Tochter von Paul Seligen, dem 1973 verstorbenen Mann, der als Schulleiter des humanistischen Gymnasiums von Neuenkirchburg im Jahr 1937 die handschriftliche Notiz unter das Protokoll einer Lehrerkonferenz gemacht hatte, in welcher er mit zynischen Worten die Inhaftierung des Vaters einer aufmüpfigen Schülerin gutgeheißen hatte. Zur Zeit der Keller-Gestapo hatte der glühende Nationalsozialist seinen untergebenen Lehrer Adolf Wegemann unter heftigen Drohungen aufgefordert, sich gegenüber dem Gestapoleiter Klaus Wilkens kompatibel zu zeigen. Fast 30 Jahre später, kurz vor seinem Tod, hatte sich Paul Seligen bei Adolf Wegemann dafür in einem wirren Brief entschuldigt.
Der Professor hatte Hermine Seligen bei einer wissenschaftlichen Tagung über den Nationalsozialismus kennen gelernt, als sie in ihrer Eigenschaft als Therapeutin, die ausschließlich Täter und Opfer der NS-Zeit zu ihrer Klientel zählt, ein Referat gehalten hatte. In den Gesprächen war bald die Verbindung zwischen der beruflichen Vergangenheit ihres Vaters am Gymnasium von Neuenkirchburg und Manfreds Diplomarbeit über die dortige
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