Wo der Tod begraben liegt (German Edition)
deinen Vater fertig gemacht habe?“
„Zufall, dass ich nichts gesagt habe, denke ich. Auch Angst vor den vielen Leuten spielte eine Rolle. Zudem zweifelte ich damals bereits an der Esoterik. Und ich stand in einer schmerzhaften Auseinandersetzung mit meiner Kindheit. Ich wusste mittlerweile einiges über meinen Vater. Du lagst nicht so komplett daneben damit, was du über ihn zu schimpfen wusstest.“
„Aber in dem Brief an Adolf Wegemann kam rüber, dass ihn erhebliche Gewissensbisse wegen seiner NS-Vergangenheit geplagt haben.“
„Vor seinem Tod explodierte es noch mal in ihm; eine systematische Aufarbeitung hatte er aber nie gemacht. Rate mal, warum der Brief so abgedreht war. Neurotisch war er seit seiner Jugend und blieb es bis zum Tod. Mit dem Saufen begann er in den fünfziger Jahren, das war halt der Preis für alles. Auch Intelligenz konnte ihn nicht antreiben, davon hatte er weniger, als man es bei einem Schulleiter vermuten würde.“
Die Blicke blieben aufeinander gerichtet und weiterhin empfanden beide Seiten das als angenehm. Das Gespräch öffnete sich mit der Zeit wieder anderen Themen. Nun, nachdem all das, was unbedingt hatte gesagt werden müssen, auch gesagt worden war, verlief der Dialog noch leichter als er sich bisher schon gezeigt hatte.
„Ich fühle mich wie fünfzig“, meinte Manfred irgendwann, wahrnehmend, dass er erstmals seit dem Ausbruch seiner Krankheit eine Anziehung zum anderen Geschlecht verspürte.
Hermine antwortete nicht schüchtern. „Und ich fühle mich seit meiner geistigen Entwicklung zum Weltlichen nach guten Gesprächen manchmal vergnügungsbedürftig. Das kannte mein Leben vorher nicht.“
Manfred musste daran denken, dass er vorhin in einem Wandregal einen Buchrücken mit dem vielsagenden Titel „Von der Reife, fremdzugehen“ gesehen hatte. Im Moment hatten beide keine Angst davor, dass sich ihre Sympathie verselbstständigen könnte; Leistung war ihnen lächerlich und dass jedes Alter seinen Reiz hat, das erfuhren sie gerade.
Irgendwann wurde es Zeit, ins Bett zu gehen.
*
Manfred und Hermine frühstückten auf der Terrasse, von wo aus sie einen weiten Blick auf die Wiesen und Wälder des alpinen Nordhangs hatten. Sie waren nicht müde geworden, sich kennen lernen zu wollen und so hatten sie gleich nach dem Aufstehen ihre abwechslungsreiche Unterhaltung vom Vorabend wieder aufgenommen. Manfred brachte das Gespräch wieder auf Hermines Vater.
„Du sagtest gestern, du erfuhrst mit der Zeit viel über deinen Vater.“
„Über seinen Mist in der Kindheit konnte ich frühzeitig einiges rauskriegen. Seine Verstrickungen in der Nazi-Zeit offenbarte er erst in den Wirren seines letzten Jahres, als er ja auch den Brief an Adolf Wegemann schrieb. Indirekt hatte er so einiges auf dem Kerbholz.“
„Indirekt hatte das wohl irgendwie jeder, der im NS-Staat so eine Position wie ein Schulleiter inne hatte“, vermutete Manfred.
„Mein Vater hat einen Parteigenossen zu Verbrechen angestachelt. Seinem Freund Otto Karbert hat er Tipps gegeben, wie er sich vor den Fronteinsatz drücken kann.“
Manfred guckte auf. „Du hast mal meine Diplomarbeit gelesen?“
„Nur eine Rezension. Von einer Hilfskraft habe ich mir die Stellen rausschreiben lassen, in denen mein Vater vorkommt.“
„Erzähl weiter.“
„Mein Vater hat seinem Freund Otto Karbert gesagt, dass er Leute der Gestapo ans Messer liefern soll, um sich in Neuenkirchburg unentbehrlich zu machen. Dabei hat er ihn aufgefordert, notfalls einfach Unschuldige zu nennen.“
Manfred stand auf und ging durch den Raum. In knappen Sätzen erzählte er Hermine, dass Otto Karbert der Gestapo seinen Vater ausgeliefert hatte. Und dass sein Vater anschließend von der Gestapo ermordet worden war.
Hermine Seligen ging einem Erstaunen aus dem Weg und sprach ruhig weiter. „Dann ging der Tod deines Vaters möglicherweise auf einen Tipp meines Vaters zurück.“
„Selbst wenn dein Vater als Tippgeber bei der Verhaftung meines Vaters aufgetreten sein sollte, so lag die Ausführung der Denunziation immer noch bei Otto Karbert.“
Nun konnte Hermine Seligen den Zusammenhängen nicht mehr entfliehen. Ihre Finger suchten die Kaffeetasse, als sie sagte: „Puh! Was ist das alles für eine Scheiße.“
Alle versammelte Berufs- und Lebenserfahrung konnte nicht verhindern, dass es nun der Ruhe und Sammlung bedurfte. Bald erschien ein Waldarbeiter auf dem Weg, der in einigem Dutzend Metern Entfernung am Hang
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