Wo der Tod begraben liegt (German Edition)
entlang führte. „Grüß Gott, gnädige Frau“, rief er mit gelupftem Hut. „Ah, der Herr von letzter Woche auch wieder da“, kam es in nicht minder deutlicher Lautstärke hinterher. Manfred schmunzelte. Hermine versuchte desgleichen auch und sprach leise und mit geschlossenen Augen: „Bitte keinen Kommentar.“
Deine Liebschaften interessieren mich gar nicht, dachte Manfred und wandte sich erneut dem Thema zu. „Die Vergangenheit hat deinen Vater vor seinem Tod eingeholt und sein Seelenleben mitunter unbeherrschbar gemacht“, sinnierte er mit Blick auf seine eigene Entwicklung.
„Dabei bedauerte er es, nicht früher über sich geredet zu haben. Er war sicher, dass ihn das gerettet hätte. Dafür hatte er Otto Karbert als Beispiel, der sich frühzeitig im Leben jemanden zum Reden gesucht hatte.“
„Quatsch. Otto Karbert war auch Säufer und...“
„Aber der konnte wenigstens noch ein aktives Leben führen... Die verbale Erleichterung wird ihm erheblich dabei geholfen haben. Auch wenn sein Gegenüber kein Therapeut war.“
„Bei wem hat er sich denn erleichtert?“ Sofort ahnte Manfred die Antwort.
„Bei seinem Sohn Werner.“
Manfred hatte richtig geahnt.
„Er hat seinen Sohn Werner eingeweiht“, wiederholte sich Hermine Seligen. „Sich das eigene Kind dafür auszusuchen, passiert nicht selten. Oft beginnt das im Suff. Das Kind wird hellhörig, es merkt sich, dass der Vater unter heftigem Alkoholeinfluss einen offenen Schnabel hat und nutzt das aus. Meine Therapien mit NS-Tätern waren voll von solchen Geschichten. Jede verläuft anders.“
„Dass Werner von der Nazi-Vergangenheit seines Vaters etwas wusste, habe ich im Zuge meiner Diplomarbeit auch erfahren. Wie viel und was er wusste, hatte mich mal ein bisschen interessiert“, untertrieb Manfred gewaltig.
„Werner hat alles über die NS-Verbrechen seines Vaters gewusst, da war sich mein Vater ganz sicher. Und Werner hat das ausgenutzt, er hat seinem Vater deutlich zu verstehen gegeben, dass er ihn in der Hand hat.“
„Weiter“, kam es unpassend streng aus Manfreds Mund, als Hermine einen Schluck Kaffee zu sich nahm.
Sie lächelte über seine Ungeduld und fuhr fort. „Werner trieb seinen Vater zu Hilfeleistungen. Sein Vater musste mit seinen politischen Verbindungen dafür sorgen, dass er am Gymnasium nicht scheiterte, dass er nicht zur Bundeswehr eingezogen wurde, dass er in Bonn genügend Kunden bekam, als er als junger Kerl sich dort als Umzugsunternehmer selbstständig machte. Und wohl einiges mehr. ‚Er ist ein Saukerl, das hat er von mir‘, hat Otto Karbert mal über seinen Sohn gesagt.“
Manfred sehnte sich nach einer Zigarette. Hermine merkte das, holte eine Schachtel Ultralight aus der Wohnung und zündete zwei Glimmstängel an. Dann sprach sie weiter. „Mein Vater und Werners Vater hatten Zeit ihres Lebens eine Art Netzwerk. Man hatte auch mal Jahre nichts miteinander zu tun, aber man half sich. Die gemeinsame Geschichte von Verbrechen gegen die Menschlichkeit verband die beiden.“
„Wie dachtest du über deinen Vater, als er sich dir gegenüber offenbarte?“
„Ich konnte seine psychotischen Verhaltensweisen besser einordnen. Das half mir.“
Manfred hatte nicht das Gefühl, dass Hermine schon fertig war. Und in der Tat. Nach einigen tiefen Zügen von der Zigarette kam noch was. „Seine inneren Regungen, die ihn zum Brief an Adolf Wegemann und zu Gesprächen mit mir getrieben hatten, sah ich als Leistung.“ Hermine drückte ihre Zigarette aus, als sie abschließend sagte: „Aber ich war erleichtert, als er starb.“
*
Schon gleich nach dem Abschied von Hermine spürte Manfred Angst. Furcht vor der Titanic. Er wusste nicht, warum und weswegen sich der Höllendampfer jetzt wieder melden sollte; ohne irgendeinen besonderen Grund vermutete er einfach sein baldiges Wiederkommen. Und dass die Titanic ihn diesmal bei vollen Bewusstsein, nicht etwa im Traum, aufsuchen würde. So gut es ging traf Manfred Vorkehrungen, als ihn eine solche Wahnvorstellung schon wenige hundert Meter nach dem Ortsschild Navis in seinem Auto zu überkommen drohte. Mit einem gut durchgedrückten Gaspedal versuchte er, seine Gedanken auf die unfallfreie Bewältigung der engen Landstraße zu konzentrieren; laute Musik aus dem Autoradio sollte ihm ebenfalls dabei helfen sich abzulenken.
Die schnelle und ohrenbetäubende Autofahrt erfuhr an dem Abzweig zur Brenner-Autobahn eine erste Unterbrechung. Irgendetwas wollte Manfred
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