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Wo der Tod begraben liegt (German Edition)

Wo der Tod begraben liegt (German Edition)

Titel: Wo der Tod begraben liegt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Gohlke
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gerne glauben.
    „Hilfe!“, hieß es erneut. Und nun gab es keine erneute Pause, sondern der Ausruf wiederholte sich unmittelbar: „Hilfe! So helft mir doch. Ich bin hier.“
    „Hier“ kann ja jeder behaupten, dachten jetzt diejenigen Geretteten, denen es nicht gelang wegzuhören. Eine genaue Ortsbeschreibung darf man ja wohl verlangen. Schließlich strengt sich hier alles an. Von den Lautsprechern bis zu den Gläsern.
    „Seht ihr mich denn nicht. Ich bin hier! Richtung Untergang.“
    Mit Untergang muss die Titanic gemeint sein, konstatierte die Bootsbesatzung. Eigentlich ein völlig unpassendes Wort, waren sich alle einig, denn es passt einfach nicht zu dem Hochgefühl, das gerade empfunden wird. Sicherlich, ein Schiff geht unter, aber das ist ein Akt, der nun wirklich keinerlei Anspruch auf Originalität stellen kann; das gab es doch immer schon, das Meer ist zehntausendfach Zeuge von so etwas geworden. Außerdem, so nickten sich die Geretteten wohlwollend zu, dürfe man nicht vergessen, dass das Schiff versichert ist. „Vollkasko“, wusste einer es genau. „Sieh mal einer an“, hieß es vom Nachbar.
    „Hilfe! So helft mir doch.“ Wieder hatte es geschrien. Nun, so gaben sich die Anwesenden mit bestätigenden Blicken zu verstehen, wolle man sich mit der Sache doch mal genauer beschäftigen. Die Stimme gehörte einem Mann, wie das Gesicht, dass dort so knapp aus dem Meereswasser ragte, unzweideutig zu erkennen gab.
    Und das Gesicht war für einige Passagiere kein unbekanntes. „Werner!“, drückten sie ihr Erstaunen aus. Begeisterung beinhaltete die Namensnennung aber nicht, man stellte lediglich das Gesehene nüchtern fest. „Was machst du denn hier?“, fragte sogleich einer von ihnen.
    Werner selbst verspürte keinen Sinn in der Erteilung von Auskünften, die seines Erachtens von dem Naheliegenden ablenkten. „Holt mich hier raus. Sonst ertrinke ich!“, blieb er statt dessen standhaft bei seinem mittlerweile schon mehrmals vorgetragenem Anliegen.
    Sofern die Angesprochenen Werner kannten, schauten sie sich tief in die Augen; zuerst schienen sie sich dabei lediglich ihre Überforderung gegenseitig bestätigen zu wollen, dann nutzten sie den intensiven Blickkontakt aber augenblicklich dafür, Konsens darüber zu erzielen, dass Werners Wunsch nicht so ohne Weiteres entsprochen werden konnte.
    Bei einer Frau machte es den Anfang damit, dass der am Beginn der Rettungsfahrt so besinnliche, nach der Entdeckung von Werner dann erstaunte wie alsbald fragende Gesichtsausdruck der Geretteten sich in ein aufgebrachtes Mienenspiel verwandelte. Manfred erkannte, dass es sich um Werners Tochter handelte. Was kann die wütend sein, beobachtete er, nachdem er ihre Stimme vernommen hatte: „Sag‘ mal, warum glaubst du eigentlich, hatte ich den Kontakt zu dir abgebrochen? Glaubst du deine regelmäßigen Zimmerdurchsuchungen, deine täglichen aggressiven Vorhaltungen, dein heimliches Lesen meiner Briefe, das Zerreißen von Zeitungen, die dir nicht passten – glaubst du denn, das war alles nur eine Kleinigkeit?“ Auch die anderen Passagiere, sofern sie Werner kannten, meldeten nun eiligen Gesprächsbedarf an. Den Anfang machte ein Mann, den Manfred sofort als Werners Sohn ausmachte. „Meine erste Freundin, meine große Liebe, hast du vergrault. Soll ich hier vor all den Leuten sagen, wie du das geschafft hast?“ Eine Frau, die ungenannt bleiben wollte und ein Halsband trug, rief gleich im Anschluss: „Du bist einfach über das Safeword hinweggegangen!“ Ein Mann, der sich als verarmter Einzelhändler vorstellte, schrie: „Du hast im Niedergang deiner Firma noch groß bei mir eingekauft, obwohl du wusstest, dass du das nie mehr wirst bezahlen können. So ging ich noch vor dir pleite.“ Manfred beobachtete, dass sich manisch nach oben ausgestreckte Zeigefinger um die Reihenfolge der Anklage stritten. Als sich mehrere Stimmen gegenseitig zu überschlagen drohten, platzte Manfred der Kragen und er schrie mit einer Kraft, welche die Titanic augenblicklich zur Beschleunigung ihres Tauchvorgangs zu animieren schien: „Ruhe! Und zwar alle! Ruhe, ihr Hornochsen!“ Das saß. Manfred stand auf und begab sich zum Podest am Bug des Schiffes. Er formte seine Hände zum Lautsprecher, um von allen bestens gehört werden zu können. „Werners Vater hat der Gestapo Leute ans Messer geliefert, unter anderem meinen Vater. Und Werner hat das gewusst. Und sich trotzdem noch hundsmiserabel gegenüber mir verhalten, mehr als

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