Wo der Tod begraben liegt (German Edition)
fragen wollte. Er stürzte förmlich zu den Akten, die in mehreren Stapeln den Tisch bevölkerten und suchte mit überall gleichzeitig arbeitenden Händen nach den Quellen. Das Zittern seiner Glieder wurde nicht weniger, vor Hektik schmiss er mit dem Ellenbogen das volle Wasserglas vom Tisch. „Das musste ja passieren“, hörte er sich sagen, ohne dass er Anstalten unternahm, das Glas wieder aufzuheben. Bald hatte er das Gefühl, sich zehn Akten auf einmal vorzunehmen, ohne dabei wirklich mitzubekommen, was seine Augen erfassten. So geht das alles nicht, dreh‘ nicht durch, ruhig Blut, mahnte er sich zur Umsicht.
Wie gemahnt, so getan. Nach einem Moment des Innehaltens nahm Manfred jede Akte einzeln von den Stapeln herunter und las sich zwecks Vermeidung unnötiger Fehler laut und langsam vor, was dort unter „Betreff“ geschrieben stand. Manfred wagte es kaum noch, eine dieser Betreffzeilen im Schnelldurchgang zu überfliegen, denn er wollte es nicht ausschließen, dass es da noch weitere Akten gab, die ihn überraschen konnten.
Bei einer solchen Arbeitsweise kann es dauern, bis 423 Dokumente durchgearbeitet sind, auch wenn es sich lediglich um die Überschrift handelt, nach der man Ausschau hält. Die Zeit rann dahin. Manfred eroberte sich alle möglichen Betreffzeilen, aber die gesuchte fand er nicht. Hatte er sich getäuscht? War alles nur eine Art Fata Morgana gewesen, die seinem Wahrnehmungsvermögen infolge der hohen seelischen Anspannung der letzten Wochen einen Streich gespielt hatte? Und hatte sich infolge dessen lediglich kurzzeitig das Zusammenspiel seiner Gehirnzellen und Synapsen verrückt?
Manfred wollte das nur zu gern glauben, als er endlich beim letzten Aktenstapel angekommen war. Wäre besser so, dachte er, lieber ein bisschen verrückt gewesen sein als dass das wahr ist.
In der Tat wäre das für Manfreds Seelenleben um einiges angenehmer gewesen. Aber die Akten taten ihm den Gefallen nicht. Kurz vor Stapelschluss offenbarten sich in aller Deutlichkeit zwei Dokumente, in deren Betreffzeile auch nach dem dritten Nachlesen immer noch geschrieben stand: „Versammlungsort Geschäft Feldstraße“.
Die beiden Dokumente legten sofort und unmissverständlich klar, dass ein Mitglied von Manfreds Familie Objekt der Keller-Gestapo gewesen war. Und zwar in einer Art und Weise, dass Manfred allen Grund gehabt hatte, „mit Gefühlen zu tun zu haben, die man glaubt, nicht aushalten zu können“, wie er es gegenüber Conny ausgedrückt hatte. In mehreren Schüben kamen Manfreds Anwandlungen explodierender Fassungslosigkeit. In den Zwischenzeiten, wenn er sortierter war, versuchte er über den Tellerrand der Informationen, welche die zwei Quellen ihm gaben, hinauszusehen. Mit Hilfe des kommentierten Bild- und Quellenbandes "Neuenkirchburg 1944/45" machte sich Manfred dann seine Gedanken:
Mit der Eroberung der linksrheinischen Gebiete im Februar 1945 war der Zusammenbruch der Westfront eingeläutet worden. In der ersten Aprilhälfte erreichte die US-Armee Neuenkirchburg, nur einige Tage vorher hatte die Keller-Gestapo ihre Arbeit eingestellt und war verschwunden. Vom Tageangriff alliierter Luftstreitkräfte Mitte März war auch die Zahnradfabrik MERTENS betroffen gewesen; laut einer einzeiligen Meldung in der nur noch zwei Seiten umfassenden Tageszeitung waren dabei 22 Werksangehörige ums Leben gekommen.
Die Lebensmittelration war im Februar 1945 ein weiteres Mal gekürzt worden, ein halbwegs magenfüllendes Mittagessen gab es nun nicht mal mehr für die körperlich Schwerstarbeitenden in Neuenkirchburg. Der öffentliche Personennahverkehr war auf eine Buslinie zusammengestrichen worden, wodurch ein großer Teil der verbliebenen Kräfte für längere Fußwege aufgebracht werden musste. Immer neue Räumlichkeiten wurden für kriegswichtige Zwecke beschlagnahmt, sodass öffentliche Dienstleistungen kaum noch gewährleistet werden konnten. So wurde die von einer alten Dame unentgeltlich geführte Bibliothek geschlossen, Ämter halbierten ihre seit 1943 schon mehrfach gekürzten Öffnungszeiten. Zu allem Unglück starb der wichtigste Hausarzt von Neuenkirchburg, der für die notdürftige medizinische Betreuung von Kindern und Alten unentbehrlich gewesen war. Ersatz gab es nicht.
Alles, was man sich unter einem Zusammenbruch so vorstellt, gab es tatsächlich, dachte Manfred. Dabei fand er auch Skurriles, Groteskes, Absurdes.
So war ein Volkssturm, der aus Jungen bis 16 und Männern über 60 bestand,
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