Wo der Tod begraben liegt (German Edition)
blieben ihm ja nur zwei Monate und ein zweites Mal musste Manfred feststellen, dass sein Ehrgeiz, die Quellen so tief wie möglich zu erfassen, bei bestem Willen nicht umzusetzen war. Und da Manfred merkte, dass nicht er die Komplexität seines Themas, sondern umgekehrt, die Komplexität seines Themas ihn zu beherrschen drohte, suchte er nach einem Befreiungsschlag, der ihm den Pfad zur Praxis des geistigen Arbeitens dann hoffentlich erleuchten lassen würde. Stelle ich das, begann Manfred seine Gedanken, was ich persönlich am interessantesten finde, doch einfach in den Mittelpunkt meiner Überlegungen. Das ist es, genauso mache ich es, versicherte sich Manfred, erleichtert darüber, endlich einen Vorwärtsgang eingelegt zu haben.
Und Manfreds Interesse artikulierte sich in Anlehnung an sein Gedenken an den ermordeten 67-jährigen Arbeiter wie von selbst: Manfred wollte etwas über die Zahl der Ermordeten und mittels der Personaldaten etwas über deren Alter, Beruf, Betriebszugehörigkeit und Familienstand wissen. Dafür sah er alle Quellen auf eine Betreffzeile hin durch, in der stand „Bei Fluchtversuch erschossen“. Sein Quellenstudium erinnerte Manfred jetzt stark an seine Fließbandarbeiten, der er in den letzten 15 Jahren in zahlreichen Fabriken im Rhein-Main-Gebiet für jeweils kurze Zeit nachgegangen war. Im Unterschied dazu konnte er im monotonen Ablesen der Betreffzeilen jedoch einen Sinn sehen, weshalb er seine Konzentration aufrecht erhalten konnte. Um sich seiner Sache sicher zu sein, ging er die 423 Dokumente nach getaner Arbeit in gleicher Aufgabenstellung ein zweites Mal durch, wobei sich den im ersten Durchgang gefundenen acht Quellen jedoch keine weiteren hinzugesellen sollten.
Jetzt wollte sich Manfred diese acht Dokumente, bei denen er Ermordungen durch die Gestapo vermutete, genauer anschauen. Er überlegte gerade, ob sich für die vergleichende Aufnahme der Personaldaten die Anfertigung einer Tabelle anbot, als ihm Bilder durch den Kopf gingen. Erst zeigten sie sich nur vereinzelt, dann traten sie öfter vor seine Augen. Alsbald handelte es sich um immer wiederkehrende unruhige Bildfolgen, mit denen man zu tun haben kann, wenn man zu viel fern geschaut hat und völlig überdreht ist – oder aber, wie in Manfreds Fall, wenn man zu viele Schriftstücke in zu hohem Tempo immer und immer wieder unter ein- und derselben Fragestellung gelesen hat. Manfred vermutete nichts Schlimmes, er interpretierte sein Durcheinander mit der Überanstrengung seiner Augen, die allenfalls noch zu Kopfschmerzen führen würde.
Aber Manfred bekam keinen Brummschädel, auch wenn sich der Fortgang der Entwicklung alles andere als schmerzfrei für ihn gestalten sollte. Im Wirrwarr der Bilder in seinem Kopf, die allesamt das Wort „Betreff“ mit einem danebenstehenden Mosaik nicht fassbarer Wörter und Buchstaben zeigten, wiederholte sich immer öfter ein Bildnis, dessen Schriftzeichen sehr wohl in vertrauter Leselogik aufgenommen werden konnten. Zuerst erfasste Manfreds Kopf nur ein Wort.
Aber das hatte es in sich, hatte es doch in seinem ersten Personalausweis gestanden.
Auf der Stelle spürte er einen Adrenalin-Stoß. Irgendwann konnte er sich auch der anderen Wörter erinnern, endlich hatte er die ganze Betreffzeile klar vor Augen. Mehrfach war Manfred bei seinen Schnelldurchgängen durch die Akten darüber gestolpert, vielleicht drei- oder viermal, schätzte er. „Betreff: Versammlungsort Geschäft Feldstraße“, lautete die Zeile, an die sich Manfred erinnerte.
In der Feldstraße ist Manfred aufgewachsen und dort hatte er ununterbrochen bis zu seinem Wegzug gelebt. Seine Mutter wohnt noch heute dort.
Allein das fand Manfred schon ausgesprochen spannend. Als er dann über diesen Straßennamen in Kombination mit dem davorstehenden Wort „Geschäft“ sinnierte, also immer wieder an „Geschäft Feldstraße“ denken musste, fingen ihm die Hände an zu zittern. Geschäfte gab es viele in Neuenkirchburg. Aber es gab definitiv nur ein einziges Geschäft in der kleinen Feldstraße.
Und das war das Geschäft seiner Eltern.
Manfred hatte Schwierigkeiten, das fassen zu können. Und so sprach er ein klassisches „Das darf doch nicht wahr sein“ laut vor sich hin, als er sich das zweite Mal seiner Gedanken versicherte. Und als er dann auch noch das Wort Versammlungsort mitdachte, als er also die drei Wörter „Versammlungsort Geschäft Feldstraße“ im Zusammenhang dachte, wusste er kaum, was er sich zuerst
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