Wo der Tod begraben liegt (German Edition)
in den Wochen des Zusammenbruchs zur Anfertigung von Panzergräben verordnet worden; die meiste Zeit aber lief dieser Volkssturm, wie Manfred es in einem Auszug aus einem Tagebuch las, „hektisch durch Neuenkirchburg, ohne dass denen klar zu sein schien, was sie eigentlich vorhaben“. In dem gleichen Tagebuch hatte Manfred nachlesen können, dass in einem Altenheim „tagelang keiner, auch nicht die drei Pflegerinnen, irgendein Wort miteinander sprachen.“
Dazu im völligen Kontrast stand für Manfred die Beobachtung, dass das letzte Fußballspiel in Neuenkirchburg Anfang März 1945 ausgetragen und von über 150 begeisterten Zuschauern besucht worden war. Ein Foto zeigte, Manfred glaubte es nicht, zwei enthusiastisch jubelnde Männer.
Zu den Paradoxien der Ereignisse zählte Manfred einmal mehr den bis zuletzt funktionierenden Gestapo-Apparat. Manfred konnte es einfach nicht begreifen, dass sich jemand hinter eine Schreibmaschine setzte, um in bürokratischer Sprache die Willkür eines Staates zu dokumentieren, dessen unmittelbar bevorstehender Untergang jedem bewusst gewesen sein muss. Nicht auszuschließen, dachte Manfred weiter, dass der Schreiberling ernsthaft darum bemüht war, keine Kommafehler zu machen.
Auch die Bilder, die in dieser Zeit des Untergangs eine Schulklasse beim Lernen von Daten zur Völkerwanderung und eine Einladung zu einem Vortrag über das Menschliche in der deutschen Romantik zeigten, überforderte Manfreds Vorstellungsvermögen komplett.
D ie Bilder und Quellen über den Neuenkirchburger Kriegsalltag steigerten Manfreds Unruhe noch mehr. Als er sich erneut den Gestapo-Akten, die mit dem Geschäft und dem Wohnort seiner Eltern überschrieben waren, zuwandte, kriegte er ungeheure Angst, augenblicklich mit dem Irrsinn schwanger zu gehen.
Um sich das vorstellen zu können, muss man wissen, wie sehr Manfred seinen Vater geliebt hatte. Um den ging es nämlich in den Dokumenten.
Manfreds Vater war von der Keller-Gestapo ermordet worden. Es stimmte nicht, dass er bei dem verheerenden Bombenangriff, wie es der Familie mitgeteilt worden war, ums Leben gekommen war.
Am Tag vor dem Bombenangriff war sein Vater Karl Semmler vor dem Bombenangriff von der Keller-Gestapo verhört worden. In dem Dokument schreibt die Gestapo: „Das Verhör bestätigt den Verdacht, dass im Geschäft von Karl Semmler, Jahrgang 1899, wohnhaft Feldstraße 17, eine Versammlung der Saboteure abgehaltenen wurde. Bei der Festnahme fanden sich bolschewistische Hetzschriften in seiner Aktentasche. Es ist entsprechend der Militärgerichtsbarkeit (Standgericht) zu verfahren. Das Vermögen ist einzubeziehen.“
Standgericht hieß Tod, wusste Manfred.
Der Bombenangriff bei Tag war der Keller-Gestapo gelegen gekommen. „Auf dem Arbeitsweg gefallen“, hieß es lapidar in der Mitteilung an Manfreds Mutter. Manfred hatte nie vergessen, in was für einem apathischen Tonfall ihm seine Mutter das damals mitgeteilt hatte.
*
„Fünf Jahre alt warst du damals... Was steht in dem zweiten Dokument?“, fragte Conny.
Manfred stand auf und kletterte auf den Schreibtisch. Dort las er laut mit hoch gereckten Kopf aus dem an der Wand befestigten Dokument: „Aufgrund des § 1 des Gesetzes über die Einziehung kommunistischen Vermögens vom 26. Mai 1933 wird in Verbindung mit dem Erlass des Führers über die Verwertung des eingezogenen Vermögens von Reichsfeinden vom 29. Mai 1941 das gesamte Vermögen des Karl Semmler zugunsten des Deutschen Reiches eingezogen.“ Manfred hatte einen Fuß bereits wieder auf den Boden, als er hinzufügte: „Aber da es bald vorbei war mit der Nazi-Herrschaft, kam es Gott sei Dank dazu nicht mehr.“
„Hast du gewusst, dass dein Vater Kommunist war?“
Manfred goss sich Wein an; Gläser standen genug im Raum, wenn auch keine sauberen. „Mein Vater“, Manfred nahm einen ersten großen Schluck, „war kein Kommunist.“
„Aber...“
„Auch wenn alles, was ich über meinen Vater weiß, dem Typus eines Widerstandskämpfers widerspricht, habe ich mich darüber mit meiner Mutter unterhalten. Sie sagte, Vater mochte die Politik nicht und die Kommunisten waren ihm immer zu laut. Mein Vater war kein Kämpfertyp, er wollte auch gar kein besonders mutiger Mensch sein. Er war leidenschaftlicher Musiker und liebte seinen Beruf als Klavierbauer.“
„Warum hat ihn die Gestapo dann als Kommunisten bezeichnet?“ Conny trank ein Schluck Wein aus Manfreds Glas. „Vielleicht hat er denen ja einen
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