Wo der Tod begraben liegt (German Edition)
Raum für ihre Versammlungen zur Verfügung gestellt“, beantwortete sie sich ihre Frage selbst.
Manfred schüttelte den Kopf. „Das ist unvorstellbar, so wie er war. Vor allem hätte er nie kommunistische Flugblätter in seine Aktentasche gesteckt.“
„Dann haben die Nazis das vielleicht nur reingeschrieben, um eine Begründung für das Standgericht zu haben.“
„Das war nicht nötig“, widersprach Manfred. „Für eine Ermordung genügte es völlig, dass es in seinem Geschäft eine Versammlung der Saboteure gegeben haben soll.“
„Stimmt... außerdem brauchten die wohl gar keine Begründungen mehr.“
„Einige schon. Zumindest die Sorte von Gestapo-Leuten, deren Identität sich an preußischen Tugenden orientierte. Die konnten zwar bestens damit leben, dass jemand standrechtlich ermordet wurde, aber wenn dafür keine Begründung niedergeschrieben werden konnte, bekamen die Alpträume.“
Manchmal könnte man Angst vor Manfred bekommen, dachte Conny. „Wenn dein Vater unmöglich ein kommunistischer Widerstandskämpfer gewesen sein kann, ist das alles nicht zu verstehen.“
„Vielleicht hatte ja jemand von der Gestapo ein privates Hühnchen mit meinem Vater zu rupfen.“
Conny trank einen weiteren Schluck aus Manfreds Glas. „Oder jemand anders. Der hat dann die Flugblätter in seine Aktentasche gesteckt. Oder was auch immer.“
Manfred stand auf, ging in die Zimmermitte und drehte sich mit Blick auf seine Aufzeichnungen langsam um seine Achse. Was kann Manfred ernst gucken, dachte Conny.
„Das wäre nicht nur gut möglich, sondern das muss es sein!“ Manfred raufte sich die Haare. „Betriebsblindheit nennen Wissenschaftler so etwas, wenn sie Sachen nicht sehen, die offensichtlich sind.“
„Wenn dein Vater von irgendjemand angeschwärzt wurde, dann lebt der vielleicht sogar noch. Das ist ja erst 34 Jahre her.“
Manfred Blick wurde immer unbeweglicher, bald öffnete er langsam den Mund. Ob er noch böser gucken kann als jetzt, fragte sich Conny.
Wie aus dem Nichts griff Manfred der Weinflasche an den Hals.
1980
Viel mehr hatten viel mehr Angst, als sie zugeben wollten.
Die Erfahrungen waren schließlich alles andere als beruhigend. Prügelorgien, leicht und schwer Verletzte, Hasstiraden, brennende Autos, Tote. All das hatte es schon gegeben, die Geschichte der letzen Jahre war voll davon. Und ein Kompromiss, der dem ganzen ein Ende gemacht hätte, schien nicht möglich zu sein. Man konnte nur dafür oder dagegen sein. Dazwischen gab es nichts. Freundschaften gingen auseinander, Liebesbeziehungen zerbrachen, Kinder und Eltern redeten nicht mehr miteinander. Zuweilen konnte man nicht einmal von dem Schutz der eigenen körperlichen Unversehrtheit ausgehen, wenn man sich in einem Kreis von Menschen aufhielt, die eine andere Position als man selbst vertraten.
Und dass die Emotionen bei denjenigen, die bei den sich nun abzeichnenden Auseinandersetzungen eine Hauptrolle spielen würden, den Siedepunkt erreichen könnten, hielt Manfred für durchaus möglich. „Polizisten brannten wie Fackeln“, hatte vor einiger Zeit eine Boulevardzeitung über den Verlauf einer ähnlich gelagerten Auseinandersetzung wie der, die nun unmittelbar bevorstand, auf der ganzen Größe ihrer ersten Seite getitelt. Solche Schlagzeilen werden die Polizisten vor Augen haben, wenn sie sich an die Arbeit machen, dachte Manfred; nicht auszuschließen, dass solche Blätter noch einmal im Mannschaftsbus reihum gehen, bevor es losgeht.
Dass es im wahrsten Sinne des Wortes bald Schlag auf Schlag gehen könnte, hielt Manfred auch aufgrund von Einschätzungen, die er in den letzten Tagen öfter gehört hatte, für wahrscheinlich: Ein Bundeskanzler, der Andersdenkende zu Spinnern zu erklären verstand, womit er seine Anhänger wirkungsvoll darauf vorbereitete, über staatliche Gewalttätigkeiten als von den Demonstranten im Prinzip selbstverschuldete Maßnahmen großzügig hinwegzusehen. Auch andere Politiker, die im Zusammenspiel von pastoraler Rede und gepflegtem Äußeren sich die Aura persönlicher Integrität zu geben vermochten, verstanden es mit ähnlichen Charakterisierungen von politischen Gegnern ihrer Gefolgschaft mögliche Kollateralschäden an Leib und Seele als ordnungsgemäß erscheinen zu lassen.
Manfred konnte dem Land, in dem er lebte, gerade nicht so sonderlich viel abgewinnen. Man kann sich nicht ewig dafür bedanken, dass es denen nach 1945 gelungen war, eine Demokratie aufzubauen, fand
Weitere Kostenlose Bücher